Der Graben: Thriller (German Edition)
bald dunkel um sie werden würde? Die Bilder waren zwei Monate vor ihrem Verschwinden aufgenommen worden. Sie hatten vielleicht gewusst, dass ihnen irgendetwas bevorstand, doch nicht den exakten Zeitpunkt der Katastrophe, wie immer diese auch aussehen würde.
Saeko schob den Gedanken beiseite und begann, die übrigen Alben durchzustöbern. Sie wählte zwei aus dem Zeitraum um 1994 aus. Das erste, auf dem 1993 stand, enthielt eine Reihe Hochzeitsfotos von Haruko und Kota. In dem anderen, das die Jahreszahl 1995 trug, waren Bilder von dem glücklichen Paar mit seiner neugeborenen Tochter Fumi. Haruko hatte Saekos Vater im August des Jahres nach ihrer Hochzeit in Bolivien getroffen, in dem Jahr vor Fumis Geburt. Saeko erinnerte sich, dass Fumi am 15. Mai geboren war. Konnte es sein, dass Fumi gezeugt wurde, während Haruko mit Saekos Vater in Bolivien war? Zeitlich passte das genau. Es gab keinen endgültigen Beweis, doch der Verdacht lag ziemlich nahe.
Saeko merkte, dass sie gar kein klares Bild davon hatte, wie Fumi aussah. Sofort begann sie zu blättern, bis sie ein paar Schnappschüsse von ihr fand. Sie starrte auf die Fotos, verschlang geradezu die Details, suchte nach Ähnlichkeiten mit ihr selbst, nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass Fumi die Tochter ihres Vaters sein konnte – dass sie blutsverwandt waren. Sie waren einander nicht unähnlich, musste Saeko zugeben. Fumi hatte das gleiche ovale Gesicht mit runden Wangen, die Art von Gesicht, das die meisten Männer anziehend fanden. Eine gewisse Ähnlichkeit war vorhanden.
Ihr Vater und Haruko waren ein Liebespaar gewesen, und Fumi war das Ergebnis ihrer Beziehung… Bei Saekos erstem Besuch zur Recherche im Haus der Fujimuras hatte Saeko natürlich keinen Grund zu einer solchen Annahme gehabt. Wenn Shinichiro Fumis Vater gewesen war und das in irgendeinem Zusammenhang zum Verschwinden der Familie stand, musste Haruko gewusst haben, dass sie der Grund für den Untergang der Familie war. Gerade als sich in Saekos Kopf dieser Gedanke herauskristallisierte, begann im Wohnzimmer das Telefon zu klingeln. Damit hatte Saeko überhaupt nicht gerechnet.
Ihr Körper wurde starr vor Angst. Sie presste das Fotoalbum an die Brust und kniete sich mit angehaltenem Atem auf die Tatami-Matte. Sie krümmte sich nach vorne und wusste im ersten Moment nicht, wie sie reagieren sollte. Da es keinen Grund gab, nicht ans Telefon zu gehen, legte sie das Album vor sich auf den Boden und machte Anstalten aufzustehen. In diesem Augenblick hörte das Klingeln abrupt auf, und eine Männerstimme sagte: »Hallo?« Danach hörte man ein Freizeichen.
Das Ganze war binnen weniger Sekunden vorüber, doch Saeko war sofort klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Eine Reihe von Bildern schossen ihr durch den Kopf, die zu den eben gehörten Geräuschen passten. Sie sah, wie jemand den Hörer des klingelnden Telefons abnahm. Der Anrufer sprach durch den Hörer, brachte jedoch nur ein Wort heraus. Dann hatte jemand auf die Gabel gedrückt, sie wieder losgelassen, und man hatte das Freizeichen gehört. Danach war der Hörer wieder aufgelegt worden. Dafür gab es nur eine mögliche Erklärung.
Es ist jemand da, im Wohnzimmer…
Saeko spürte, wie ihr Körper auf die plötzliche Angst reagierte. Rasch hielt sie sich den Mund zu, da sie fürchtete, sonst zu schreien. Langsam bewegte sie sich auf die Tür zu und passte dabei auf, kein Geräusch zu machen. Sie schloss die Tür ab und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie hatte die Stimme am anderen Ende des Telefons erkannt. Sie hatte aufgewühlt geklungen, war aber trotzdem unverkennbar gewesen. Es war Hashiba.
Sie hatte völlig vergessen, dass ihr Handy von der Fahrt hierher noch ausgeschaltet war. Als sie die Powertaste drückte, leuchtete das Display auf und zeigte eine Reihe entgangener Anrufe an. Alle waren von Hashiba, der auch zwei Nachrichten hinterlassen hatte. Sie wählte die Nummer ihrer Mailbox und hielt sich das Handy ans Ohr. Die Stimme, die sie hörte, klang aufgewühlt und zittrig.
»Saeko, geh nicht in die Nähe von Fujimuras Haus, da ist jemand – irgendwas. Das ist mein voller Ernst. Ruf mich an, sobald du diese Nachricht erhältst. Bitte, Saeko.«
Die Mailbox spielte die nächste Nachricht ab. Diesmal klang Hashiba völlig niedergeschlagen. »Saeko, ich erwarte nicht, dass du mir jetzt glaubst. Aber hör bitte zu und versuch, ruhig zu bleiben. Saeko, das Ende des Universums – von allem – ist gekommen. Isogai und Chris
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