Der Graben: Thriller (German Edition)
angeregten Unterhaltung ließ Saeko den Blick durch das Restaurant schweifen und bemerkte plötzlich, wie festlich es an den anderen Tischen zuging – es herrschte eine typisch vorweihnachtliche Stimmung. Irgendetwas Grauenhaftes ist gerade jetzt im Gange, direkt unter unseren Füßen, und niemand außer uns weiß davon , dachte sie nicht ohne ein gewisses Überlegenheitsgefühl. Durch die Tatsache, dass sie nun ein Geheimnis teilten, fühlte sie sich Hashiba außerdem noch näher. Der Abend verging allzu schnell, und sie hatte gar keine Lust, nach Hause zu gehen.
Würde Hashiba nach dem Essen Gute Nacht sagen, oder würde er sie noch auf einen Drink in eine Bar einladen? Wenn ja, würde sie nicht nein sagen, das wusste Saeko. Hashiba schien ziemlich viel Alkohol zu vertragen. Selbst nachdem sie zu zweit die Flasche Wein ausgetrunken hatten, merkte man ihm überhaupt nichts an. Obwohl er ungefähr dreimal so viel getrunken hatte wie Saeko, hatte er seine Bewegungen vollkommen unter Kontrolle, als sie in den Aufzug traten, und auch, als er Saeko in den Mantel half.
Der Aufzug fuhr langsam vom sechsten Stock ins Erdgeschoss hinunter, und die Tür glitt auf.
Vom Aufzug zum Haupteingang führte ein mehr als zehn Meter langer Korridor, der auf den Gehsteig draußen führte. Der Korridor war nur schwach beleuchtet, sodass der Baum draußen vor dem Eingang besonders auffiel. Zwischen der grellen Beleuchtung der Bar im Erdgeschoss und den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos strömte ein Lichtschein wie ein Hof durch die Lücken im Laub.
Der Eingangsbereich des Gebäudes war leer, doch draußen auf dem Gehsteig zogen Leute in Grüppchen vorbei, eingerahmt von der viereckigen Öffnung der Türen.
Es geschah, als Saeko und Hashiba gerade auf die Türen zugingen. Ein dunkler Schatten schoss senkrecht durch ihr Blickfeld, rüttelte an den Ästen des Baumes und knallte mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Die Eingangstüren waren offen, und unmittelbar nach dem Aufprall schien ein Windstoß hereinzuwehen.
Erschrocken wichen Saeko und Hashiba zurück und blieben stehen. Zuerst waren sie sich nicht sicher, was gerade passiert war. Es war kein Erdbeben, auch kein Verkehrsunfall. Doch Saeko sah wieder und wieder das gleiche Bild vor sich, als wäre es auf ihrer Netzhaut eingebrannt. Der schwarze Schatten, der von oben nach unten das Viereck des Eingangs durchschnitt, und dann der dumpfe Aufprall . Das unnatürliche Wispern in den Zweigen des Baumes.
Ist da ein Mensch heruntergefallen?
Es gab keine andere Erklärung. Saeko und Hashiba kamen beide zu diesem Schluss. »Ist da gerade jemand vom Himmel gefallen?«, fragte Hashiba, der nicht wusste, ob er seinen Augen trauen sollte.
»So sah es jedenfalls aus…« Saeko schluckte und brach den Gedanken ab. Draußen auf dem Gehsteig hatten einige Leute zu schreien begonnen. Auch sie hatten anscheinend einen Augenblick gebraucht, um zu verarbeiten, was da ge rade geschehen war. Bald sammelte sich eine kleine Menschenmenge vor dem Baum. »Rufen Sie einen Krankenwagen!«, riefen einige.
»Kommen Sie!«, drängte Hashiba, worauf Saeko weiterging. Doch genau in diesem Moment segelte eine weitere Gestalt durch die Luft, und Saeko blieb wie angewurzelt stehen. Es war ein Mann, klein und dünn, in einem Jogginganzug. Sein Haar war kurz geschnitten und fast ganz grau. Obwohl sie zu weit weg war, um sein Gesicht erkennen zu können, spürte Saeko irgendwie, dass er sie angrinste. Dieses Gesicht mit den vielen Falten kannte sie – es gehörte Seiji Fujimura!
Saeko fühlte sich außerstande, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Sie packte Hashiba am Arm.
»Was ist los?« Mit dieser Frage wandte Hashiba sich zu ihr um.
Saekos Gesicht war aschgrau. »Haben Sie das gesehen?«
»Was gesehen?«
»Sie meinen, Sie…«
Er hatte es nicht gesehen. Die Erkenntnis dämmerte Saeko, als sie Hashibas verblüffte Miene sah. Den Arm immer noch durch seinen geschlungen, drückte Saeko beide Hände an die Brust und stand zitternd da. Die Abendluft schien plötzlich kühler geworden zu sein.
Vor wenigen Sekunden hatte sie es ganz klar gesehen – ob es ein Geist oder ein Lebewesen aus Fleisch und Blut gewesen war, wusste sie nicht. Doch ein Mann mit den Gesichtszügen Seiji Fujimuras war langsam zu Boden geschwebt, als ob er dem Weg des Körpers folgte, der kurz zuvor herabgestürzt war. Oder war es umgekehrt gewesen? Vielleicht war die Erscheinung aus dem Körper hervorgegangen und in den
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