Der Graben: Thriller (German Edition)
gereizt. ›Soll das heißen, ich hab dir nie davon erzählt? Mein verrückter alter Großvater wohnt da drin, allein. Er ist total durchgeknallt. Geh bloß nie in die Nähe, es sei denn, du willst, dass er dir den Hals bricht.‹
Dann erzählte er mir ein paar Geschichten, um mir zu zeigen, was er meinte. Der alte Mann pickte mit Essstäbchen die toten Fliegen von den Fliegenfängern und sammelte sie in einem Glas. Er hasste Tiere, und immer wenn ein streunendes Tier zu nahe kam, zog er Holzsandalen an und trat zu, so fest er konnte. So hatte er zwei streunende Katzen und einen Hund getötet, sagte mein Freund. Außerdem hatte der Alte auf der Veranda ein Gewehr, mit dem er Krähen abschoss, wenn ihm danach war. Das Einzige, was er aß, war Reis mit Enoki-Pilzen aus der Dose. Er brabbelte unaufhörlich vor sich hin. Die Mutter meines Freundes stellte ihm sein Essen auf einem Tablett vor die Tür, und der Alte schlang es innerhalb von wenigen Minuten hinunter. Das ging so schnell, weil er ja nur Reis und Pilze aß und weil er das schmutzige Geschirr einfach wieder auf das Tablett zurückstellte. Schon seit Monaten hatte keiner aus der Familie meines Freundes den Alten zu Gesicht bekommen. Sogar die Mutter meines Freundes hatte nur sein unverständliches Gebrabbel gehört, wenn sie ihm das Essen hinstellte…
Als ich der lebhaften Erzählung meines Freundes zuhörte, entstand vor meinem inneren Auge ein ganz klares Bild des alten Mannes. Wie er in der dunklen, dreckigen Hütte hauste und kaum jemals badete, wie seine Kleider an den Kanten vor Schmutz starrten. Ein übel riechender, komischer Kauz, dem man auf jeden Fall aus dem Weg gehen sollte. Ein gefährlicher Irrer.
Immer wenn ich meinen Freund besuchte, musste ich an der Hütte des Alten vorbei. Ich versuchte, Abstand zu halten, so gut es ging, aber immer wenn ich glaubte, von drinnen ein Geräusch zu hören, nahm ich die Beine in die Hand.
Mein Freund war ein guter Schüler, ein bisschen frech, und er ärgerte gerne die Leute. Er hatte immer super Ideen für neue Spiele. Es machte echt Spaß, mit ihm rumzuhängen, und ich lernte viel von ihm, also war ich oft bei ihm, auch wenn ich Angst vor dem Alten in der Hütte hatte.
Zweieinhalb Jahre lang, also bis mein Freund an einer privaten Mittelschule in Tokio angenommen wurde, war ich ständig bei ihm zu Hause. Soweit ich wusste, lebte sein Großvater immer noch in der Baracke, auch wenn ich ihn nie sah. Aber wenn der Wind in den Blättern der Bäume rauschte, konnte ich beinahe hören, wie der Alte mit den Zähnen knirschte.
Vor Angst schlug mir das Herz bis zum Hals, wenn ich mir vorstellte, wie der Alte laut brüllend aus seinem Haus gestürzt kam, mit wildem, wirrem Haar und flatternden, zerschlissenen Kleidern.
Nur ein einziges Mal habe ich den Alten gesehen, bevor mein Freund an die Privatschule ging.
An jenem Tag begann es gerade dunkel zu werden, während wir uns auf dem Rasen draußen einen Ball zuwarfen. Ich hatte gerade einen Ball verfehlt, den mein Freund geworfen hatte, sodass er mitten durch die halb offene Tür der Hütte rollte. Ich weiß noch, dass ich vor lauter Panik wie angewurzelt stehen blieb. Vor Angst schluckend schaute ich meinen Freund an.
Den schien meine Furcht vor seinem Großvater zu amüsieren. Er machte keine Anstalten, den Ball zu holen, und schaute mich stattdessen herausfordernd an, als wollte er sagen: ›Du hast den Ball nicht gefangen, also musst du ihn auch holen.‹ Um seine Lippen spielte ein Grinsen, mit verschränkten Armen stand er da und sah mich herablassend an, als wäre er ein Erwachsener und ich nur ein Kind.
Du weißt ja, wie Jungs sind. Wir würden alles tun, nur um nicht als Feigling oder Memme zu gelten. Ich musste rüber zu der Hütte gehen, hineinschlüpfen und den Ball holen, als wäre das nichts Besonderes. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und ging los, doch ich hatte solche Angst, dass ich kaum laufen konnte. Trotzdem war ich entschlossen, meinen Freund nicht merken zu lassen, dass ich Schiss hatte. Ich wollte das Ganze möglichst schnell hinter mich bringen, also schlich ich durch die Tür in den Eingangsflur und suchte den Ball. Drinnen roch es stärker nach Erde als draußen, und es war klamm und kalt. Mir klopfte das Herz.
Der Ball war genau an der Schwelle liegen geblieben, wo der Fußbodenbelag anfing. Er lag direkt neben einem Paar ordentlich abgestellter Holzsandalen, die vorne ganz abgestoßen waren. Die Sandalen muss der Alte
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