Der Graben: Thriller (German Edition)
gehabt. Aufgrund der Berichte meines Freundes hatte ich mir im Geiste ein genaues Bild von dem alten Mann gemacht. Es gab ihn nicht, und natürlich hatte ich ihn nie gesehen, aber dadurch wurde er umso realer für mich. Durch meine Fantasie wurde und blieb er lebendig, konkret, bekam ein furchterregendes Gesicht.
Als ich dann voller Panik den Ball holen ging, wurde ich plötzlich direkt mit meinem Hirngespinst konfrontiert. Es war eine Art Halluzination, schätze ich. Kein Wunder, dass das Trugbild des alten Mannes genau so aussah, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.
Aber mal angenommen, es wäre anders gekommen. Angenommen, ich hätte die Wahrheit nie erfahren. Mein Freund wäre an die Schule in Tokio gegangen. Es hätte keinen Grund mehr gegeben, warum der Großvater noch existieren sollte, und mein Freund hätte versucht, ihn sozusagen zu löschen. ›Eines Tages hat sich mein Großvater auf und davon gemacht‹, hätte er uns erzählt. ›Niemand weiß, was aus ihm geworden ist.‹
Dann hätten wir den Schuppen untersucht und niemanden darin gefunden. Für uns wäre der Großvater damit ein Vermisstenfall gewesen. Der Mensch, der die ganze Zeit in der Hütte gelebt hatte, war verschwunden. Wir wären nie auf die Idee gekommen, dass er überhaupt nicht existiert hatte.
Bei unseren Untersuchungen der Vermisstenfälle frage ich mich auch hin und wieder: Hat die Familie Fujimura überhaupt in jenem Haus gelebt? Ich weiß, das klingt verrückt. Aber vielleicht können wir dieses Rätsel erst lösen, wenn wir das scheinbar Selbstverständliche infrage stellen.«
Das erinnerte Saeko an die Debatte zwischen Einstein und Bohr.
»Das heißt, der Mond existiert, wenn wir hinsehen, und er existiert nicht, wenn wir nicht hinsehen?«
Mit dieser extremen Formulierung aus der »Kopenhagener Deutung« hatte Einstein die Möglichkeit verneint, dass Gegenstände nur existierten, wenn jemand sie anschaute. Auf der Quantenebene schien der Geist des Beobachters manchmal den Zustand des Objekts zu beeinflussen. Das Entscheidende war die Wechselwirkung; Saeko hatte selbst die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die Welt durch die Interaktion mit einem erkennenden Subjekt entsteht.
»Ich frage mich, ob nur die Menschen die Fähigkeit besitzen, eine Wellenfunktion durch bloße Beobachtung zum Kollabieren zu bringen«, dachte sie laut.
»Eine Wellenfunktion?«, echote Hashiba. Der Begriff schien ihm unbekannt zu sein.
»Das ist die Rolle des Psi in der Schrödingergleichung. Eine Quantenwelle existiert nur im Bereich der Möglichkeit, bis zu dem Moment, in dem wir sie beobachten. An diesem Punkt kollabiert sie und manifestiert sich.«
Ein leicht befremdeter Ausdruck trat in Hashibas Augen.
Na super. Jetzt hab ich’s geschafft , begriff Saeko sofort.
»Was bist du, etwa ein Physikgenie?«, fragte Hashiba.
»Ich bin kein Genie. Aber ich schätze, ich habe als Kind mehr von Physik mitbekommen als die meisten anderen«, entgegnete Saeko.
»Ich habe keinen Schimmer von der Relativitätstheorie oder von Quantendynamik, aber das war nie ein Problem für mich«, stellte Hashiba fest. Saeko bemerkte die bissige Ironie in seinem Ton.
Die meisten Menschen reagierten überrascht, wenn sie merkten, dass Saeko wirklich Ahnung von Physik hatte. Da sie in einem Umfeld aufgewachsen war, in dem jeden Tag über Mathe und Physik gesprochen wurde, hatte Saeko erst begriffen, wie einzigartig ihre Erziehung gewesen war, als sie Männer kennenlernte, die verblüfft und befremdet auf ihr Wissen reagierten.
Saeko dachte sich, es wäre das Einfachste, Hashiba anstelle langer Erklärungen zu ihrer Herkunft einfach das Arbeitszimmer ihres Vaters zu zeigen. Sie klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür.
»Lass mich dir erst mal meinen alten Schuppen zeigen«, schlug sie vor, drehte den Schlüssel im Schloss um und schob die Tür auf.
Wie lange hatte sie dieses Zimmer nicht mehr betreten? Vier Jahre, fünf? Saeko wusste nicht mehr genau, wann sie es abgeschlossen hatte. War es nach ihrer Hochzeit gewesen? Oder nachdem sie und ihr Mann zusammengezogen waren? Jedenfalls war das Zimmer länger verschlossen geblieben, als ihre Ehe gedauert hatte.
Als die Tür aufging, drang ihnen eine kräftige Mischung von Gerüchen entgegen. Saeko konnte darin den Duft ihres Vaters erkennen. Er war kein Phantom. Er hatte wirklich existiert. Und dieser Raum war sein Allerheiligstes gewesen.
27
Zwei Drittel des Zimmers wurden von deckenhohen Bücherregalen
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