Der Grabritter (German Edition)
einer knappen halben Stunde erreichten sie Domaso, einen kleinen Ort am oberen Ende des Comer Sees. Ein Stück weit vom Ufer entfernt gingen sie vor Anker.
Mit sorgenvollem Gesicht kam Ramon auf Bice zu. »Muss das sein, Contessa? Es ist gefährlich dort oben, das wissen Sie doch ganz genau. Wenn Ihr Vater davon erfährt, gibt es bestimmt Ärger.« Bice hakte den Arm bei Ramon ein und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich werd's ihm nicht verraten, Ramon.« Die Augen des Bodyguards warfen Blitze in Kerners Richtung. Dann seufzte er tief. »Also schön Contessa, aber ich komme mit.« Als er noch einen Kuss bekommen hatte, zeigte sich auf Ramons Gesicht sogar ein kleines Lächeln. Nachdem er jedoch Kerners Schmunzeln bemerkte, verschwand es sogleich wieder. Kerner hatte in diesen Sekunden etwas begriffen. Sollte sich irgendwann irgendjemand gegen die Contessa stellen, so hätte er wohl einen Todfeind. Kein Haar könnte man ihr krümmen. Es sei denn über Ramons Leiche.
Bice nahm Kerner mit unter Deck in eine der Kabinen. Sie kramte in ein paar Schubladen und warf ihm etwas zu. »Hier für dich. Dort, wo wir hinwollen, ist es nicht gerade warm. Die Sachen sind von meinem Vater. Die Hose könnte ein wenig kurz sein, aber ansonsten müsste es gehen. Zieh dich um, ich gehe schon mal nach oben.« Es dauerte eine ganze Weile bis Kerner zurück an Deck kam. Dort warteten Bice und Ramon schon auf ihn. Während Ramon nur verständnislos den Kopf schüttelte, konnte Bice sich ein Lachen nicht verkneifen. Die Hose war mindestens zehn Zentimeter zu kurz, und der Pullover drohte aus allen Nähten zu platzen. Geduldig ließ Kerner den Spott über sich ergehen und stieg dann mit den beiden in das kleine Sportboot. An einem Anlegesteg machten sie es fest und gingen an Land.
In der Nähe des Ufers war ein kleiner Fischgrill. Bice verspürte mit einem Mal Heißhunger und bestellte drei Portionen Scampi. Während sie zusammen mit Kerner noch an einem Tisch saß und aß, verschwand Ramon. Kurz darauf kam er mit einem Einheimischen wieder zurück. Bice begrüßte den Mann auf Italienisch und Ramon erklärte ihm, was man von ihm wollte. Schnell war er mit dem Mann einig. »Pepe holt seinen Wagen«, verkündete Ramon. »In zehn Minuten können wir fahren.« Und tatsächlich, kurz darauf ertönte in der Nähe eine grässliche Hupe. Aus einem alten Geländewagen, der fast nur noch vom Rost zusammengehalten wurde, winkte ihnen Pepe zu. Ramon schlug sich auf den Kopf. »Mama mia«, kam es entsetzt aus ihm heraus und gerade wollte er aufstehen und den Mann wegjagen. Bice hielt ihn fest. »Nicht Ramon. Er ist bestimmt froh, sich etwas verdienen zu können.« Sie machte eine Kopfbewegung in Pepes Richtung, der grinsend in seinem Vehikel saß. »Außerdem wird's bestimmt lustig.« Ramon rollte mit den Augen und hob die Hände in die Luft. Er gab auf. Gemeinsam gingen sie hinüber zum Wagen und stiegen ein. Nachdem sie eine Zeit lang unterwegs waren wurde die Straße enger und steiler. Die Abgründe, die links und rechts auftauchten, rückten immer näher. Ramon, der vorne auf dem Beifahrersitz saß , hatte dicke Schweißperlen auf der Stirn, während Pepe in den falschesten Tönen Italienische Volkslieder sang. Zwischendurch erzählte er die schlimmsten Schauergeschichten über die einsame und vergessene Bergwelt, durch die sie fuhren. Kerner und Bice saßen eng beieinander auf der hinteren Sitzbank und genossen die Aussicht. Obwohl es dem Wrack in dem sie unterwegs waren niemand so recht zugetraut hätte, erreichten sie schließlich ohne Zwischenfall ein kleines Plateau. Alle stiegen aus, und Pepe zeigte auf einen schmalen Pfad, der in eine enge Bergschlucht führte. Von hier aus gingen die drei ohne ihn weiter.
Entlang steil aufragender Wände kletterten sie über einen schmalen Zickzackweg den Felsen hinauf. In der Nähe hörte man das tosende Rauschen eines Wasserfalls. Sie waren schon fast eine ganze Stunde lang unterwegs, als sie um eine scharfe Biegung kamen. Vor ihnen lag eine jahrhundertealte, steinerne Brücke, die über eine Schlucht führte. Links und rechts davon türmten sich gewaltige Felsmassive auf, und Hunderte von Metern unter ihnen stürzte das Wasser zu Tal. Als sie auf der Brücke standen verschlug es ihnen den Atem. Vorsichtig lehnte Kerner sich über die schon halb verfallene Brüstung der Brücke. Bice rief ihm etwas zu. Nicht ein Wort davon konnte Kerner durch das tosende Wasser verstehen ahnte aber,
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