Der Graf und die Diebin
spürte sie ganz deutlich.
„Mein liebes Kind“, sagte Marguerite gönnerhaft und erhob sich. „Wir reisen morgen in aller Frühe. Du brauchst nichts mitzunehmen – es ist alles vorhanden.“
Jeanne stand noch am gleichen Fleck und sah der fremden Dame offen in die kühlen, grauen Augen. „Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Madame. Aber ich möchte hierbleiben.“
Marguerite erstarrte. Dann lächelte sie, als wäre nichts geschehen.
„Wir werden sehen“, sagte sie gleichmütig und verließ das Zimmer.
Christian hatte den Brief bereits zum dritten Mal gelesen, nun ließ er ihn auf den Schoß sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
Er hatte seinem Vater ins Herz geblickt. In jenes Herz, das Bernhard de Saumurat zu Lebzeiten so sorgfältig vor seinem Sohn verschlossen gehalten hatte. Christian spürte, wie ihm die Tränen die Wangen hinabrannen, und er ließ ihnen freien Lauf.
So lange er lebte, waren seine schüchternen Versuche sich dem Vater anzunähern, an einer eisenharten Wand abgeprallt. Bernhard de Saumurat hatte es für eine Schwäche gehalten, seine väterliche Zuneigung zu offenbaren.
Doch in diesem Schreiben, dem letzten aus seiner Feder, war die Sorge und Zärtlichkeit um den einzigen Sohn aus ihm herausgeströmt. Er schrieb von seiner Freude über die Geburt des einzigen, lang erhofften Kindes. Wie stolz er auf den klugen und wohlgestalteten Knaben war, den er im Alter von 10 Jahren zu sich nach Paris beorderte.
Welche Sorgfalt er auf seine Erziehung verwandte, und welches Glück es für ihn war, zu sehen, wie Christian sich ganz nach seinen Wünschen entwickelte. Bernhard de Saumurat bekannte seinen Ehrgeiz, den Sohn in die Positionen zu heben, die er selbst bisher nicht hatte erreichen können. Und er schilderte seine Ängste um den jungen Mann, der sich gar zu oft seinen Launen hingab und auf die Stimme des Herzens hörte – anstatt die Vernunft zu befragen. Ein unbändiger Schmerz erfülle ihn, aus diesem Leben scheiden zu müssen und seinem Sohn Christian im Intrigenspiel des Hofes nicht mehr schützend und helfend zur Seite stehen zu können. Seine letzte Bitte galt Marguerite de Fador. Ihrer Klugheit und ihrem Weitblick empfahl er seinen Sohn Christian de Saumurat.
Eine Berührung ließ ihn auffahren – Marguerite war leise in den Raum getreten und streichelte tröstend seine Schulter.
„Ich wusste, dass dieser Brief in deine Hände gehört“, sagte sie mit mütterlicher Zärtlichkeit. „Er ist an mich gerichtet, und ich habe mir das Vermächtnis deines Vaters immer zu Herzen genommen. Aber ich will, dass auch du den letzten Willen deines Vaters vor Augen hast, Christian.“
Er schämte sich seiner Tränen und wischte sie fort. Zugleich erfüllte ihn eine seltsame Eifersucht. Sein Vater hatte Marguerite diese Gefühle offenbart – warum nicht ihm, seinem Sohn?
Sie hatte sich auf einem Sessel niedergelassen und blickte ihn forschend an. „Verstehst du nun, weshalb ich dich nach Paris zurückholen möchte?“
Er nickte. Natürlich. Alle Hoffnungen seines Vaters gingen in diese Richtung. Er fühlte deutlich, dass es ihn drängte, diese Hoffnungen zu erfüllen. Der Hof des jungen Königs war das glänzende Terrain, auf dem er sich bewähren musste.
„Ich verstehe Euch sehr gut, Madame. Ich bin Euch zu weit größerem Dank verpflichtet, als ich jemals ahnte. Dennoch....“
Sie fiel ihm lächelnd ins Wort. „… dennoch hält dich etwas hier auf dem Lande fest, nicht wahr? Ich weiß, was es ist, Christian. Und ich gestehe, dass ich das Mädchen bezaubernd finde.“
Er sah sie verblüfft an. Woher wusste sie das? Wie war es möglich, dass diesen klugen, grauen Augen nichts entging? „Ihr habt Jeanne.... Ihr habt sie gesehen?“
„Eine ungewöhnlich schöne junge Person. Was jedoch noch viel mehr zählt: Sie hat Format. Ich gratuliere dir zu diesem Edelstein. Kaum zu glauben, dass du sie hier auf dem Land aufgetrieben hast.“
Christian schwieg. Er hatte wenig Lust, mit Mme de Fador über Jeanne zu sprechen. Es passte ihm nicht, dass sie überhaupt von ihr erfahren hatte.
„Ich gönne dir diese kleine Liebschaft von Herzen“, sagte Marguerite freundlich. „Wir werden die Kleine mit nach Paris nehmen. So eine kleine Affaire will ausgelebt sein, bis sie ihr natürliches Ende gefunden hat.“
Er spürte einen Stich im Herzen. Ihr natürliches Ende. Eine kleine Affaire. Etwas in ihm lehnte sich dagegen auf. „Und wenn diese ‚Affaire’, wie Ihr es zu
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