Der Graf von Monte Christo 1
richtiger Südländer. Sein Haupthaar und der Bart, der sein Gesicht umrahmte, waren dicht und kraus und kaum mit einigen weißen Fäden durchzogen. Seine von Natur braune Gesichtsfarbe hatte sich noch mit einer neuen braunen Schicht belegt, infolge der Gewohnheit, die der arme Teufel angenommen hatte, vom Morgen bis zum Abend auf der Schwelle zu stehen und auszuschauen, ob nicht zu Fuß oder zu Wagen irgendein Gast komme, eine Erwartung, die fast immer getäuscht wurde. Während er Ausschau hielt, hatte sein Gesicht gegen die brennende Sonne keinen anderen Schutz als ein um den Kopf gebundenes rotes Taschentuch.
Dieser Mann war unser alter Bekannter Gaspard Caderousse.
Seine Frau war eine blasse, magere und kränkliche Person, die in der Gegend von Arles geboren war. Ihr Gesicht, das noch Spuren der traditionellen Schönheit ihrer Landsmänninnen zeigte, verfi el immer mehr, da sie für gewöhnlich an einem der in jener Gegend so häufi gen Fieber litt. Sie hielt sich deshalb fast immer fröstelnd in ihrem Zimmer im ersten Stock auf, wo sie entweder im Lehnstuhl oder im Bett saß, während ihr Mann an der Tür Schildwache stand, ein Posten, den er um so lieber einnahm, als jedesmal, wenn er mit seiner reizbaren besseren Hälfte zusammen war, diese ihn mit ihren ewigen Klagen gegen das Schicksal verfolgte. Er antwortete auf diese Klagen meistens nur mit den philosophischen Worten: »Schweig, Gott will es so.«
Caderousse hatte sich, seiner Gewohnheit gemäß, wieder einen Teil des Morgens vor der Tür aufgehalten, wo er seinen melancholischen Blick von einem kleinen dürren Rasenfl eck, auf dem einige Hühner scharrten, bis zu den beiden Enden der Landstraße schweifen ließ, als ihn plötzlich die scharfe Stimme seiner Frau zwang, seinen Posten zu verlassen. Er trat brummend ins Haus und stieg die Treppe hinauf, ließ dabei aber die Haustür weit off en, wie um die Reisenden einzuladen, ihn beim Vorbeigehen nicht zu vergessen.
In dem Augenblick, da Caderousse ins Haus zurücktrat, war die Landstraße ebenso nackt und öde wie die Wüste um Mittag; weiß und endlos dehnte sie sich zwischen zwei Reihen magerer Bäume, und man begriff , daß ein Reisender, der eine andere Tagesstunde wählen konnte, sich nicht in diese schreckliche Sahara wagte.
Wäre Caderousse auf seinem Posten geblieben, so hätte er aus der Richtung von Bellegarde her einen Reiter herankommen gesehen. Dieser Reiter war ein schwarzgekleideter Priester mit einem Dreimaster auf dem Kopf; er näherte sich trotz der brennenden, hoch im Mittag stehenden Sonne in mäßigem Trab.
Vor der Tür angekommen, stieg der Reiter ab, band das Pferd an einen zerfallenen Fensterladen und ging dann nach der Tür, indem er sich mit einem roten Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. Er klopfte mit seinem eisenbeschlagenen Stock dreimal auf die Schwelle.
Sofort erhob sich ein großer schwarzer Hund und kam, seine weißen, scharfen Zähne zeigend, bellend auf den Fremden zu, ein Beweis, daß er wenig an Gesellschaft gewöhnt war.
In demselben Augenblick erschütterte ein schwerer Tritt die Holz-treppe, und der Wirt der armseligen Herberge ging auf den in der Tür stehenden Priester zu.
»Da bin ich«, sagte Caderousse ganz erstaunt. »Still, Margottin!
Haben Sie keine Angst, Herr, er bellt bloß, beißt aber nicht. Sie wünschen Wein, nicht wahr? Denn es ist eine verdammte Hitze …
Ah, entschuldigen Sie«, unterbrach er sich, als er sah, mit wem er es zu tun hatte, »entschuldigen Sie. Ich wußte nicht, mit wem ich die Ehre hatte. Was befehlen Sie, Herr Abbé? Ich stehe zu Ihren Diensten.«
Der Priester betrachtete den Mann einige Sekunden mit eigentümlicher Aufmerksamkeit, er schien sogar die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich ziehen zu wollen; als er aber sah, daß die Züge des Wirtes nichts anderes als Überraschung darüber ausdrückten, keine Antwort zu bekommen, sagte er mit sehr starkem italienischem Akzent:
»Sind Sie nicht Herr Caderousse?«
»Jawohl, Herr«, antwortete der Wirt, vielleicht noch erstaunter über die Frage als über das Schweigen, »der bin ich in der Tat; Gaspard Caderousse, Ihnen zu dienen.«
»Gaspard Caderousse … ja, ich glaube, das war der Name. Sie wohnten früher in den Allées de Meilhan, nicht wahr, im vierten Stock?«
»Ganz recht.«
»Sie übten das Schneiderhandwerk aus?«
»Jawohl, aber das Geschäft ist faul geworden; es ist in diesem Nest Marseille so warm, daß man, glaube ich, schließlich gar
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