Der Graf von Monte Christo 1
wischte sich den Schweiß, der ihm von der Stirn lief.
»Das sonderbare bei alledem«, fuhr der Abbé fort, »ist, daß Dantès auf dem Sterbebett bei dem Heiland, dessen Füße er küßte, mir geschworen hat, daß er den Grund seiner Gefangenschaft nicht wisse.«
»Allerdings, das konnte er nicht wissen«, sagte Caderousse; »nein, Herr Abbé, der arme Junge hat nicht gelogen.«
»Deshalb hat er mich auch beauftragt, sein Unglück aufzuklären und seinen guten Namen wiederherzustellen, falls dieser befl eckt worden sein sollte.«
Der Abbé, der Caderousse unverwandt betrachtete, bemerkte den fi nsteren Ausdruck auf dessen Gesicht.
»Ein reicher Engländer, sein Unglücksgenosse«, fuhr der Abbé fort,
»der bei der zweiten Restauration freikam, besaß einen Diamanten von großem Wert. Als er das Gefängnis verließ, wollte er Dantès, der ihn in einer Krankheit wie ein Bruder gepfl egt hatte, ein Zeichen seiner Dankbarkeit hinterlassen und gab ihm diesen Diamanten.
Anstatt sich des Diamanten zu bedienen, um seine Kerkermeister zu bestechen, die den kostbaren Stein annehmen und den Gefangenen dann doch verraten konnten, hob Dantès ihn sorgsam auf für den Fall, daß er aus dem Gefängnis kommen sollte; denn dann war er durch den Verkauf dieses Diamanten allein ein wohlhabender Mann.«
»Es war also, wie Sie sagen, ein Diamant von großem Wert?« fragte Caderousse mit gierigen Augen.
»Wenigstens von großem Wert für Edmunds Verhältnisse«, entgegnete der Abbé; »dieser Diamant wurde auf fünfzigtausend Franken geschätzt«
»Fünfzigtausend Franken!« sagte Caderousse. »Dann war er wohl so groß wie eine Nuß?«
»Nicht ganz«, antwortete der Abbé, »aber Sie können selbst urteilen, denn ich habe ihn bei mir.«
Caderousse schien unter den Kleidern des Abbés den Schatz zu suchen.
Der Abbé zog einen kleinen Behälter von schwarzem Leder aus der Tasche, öff nete ihn und ließ vor den geblendeten Augen Caderousses den Stein funkeln, der einen Ring von wunderbarer Arbeit schmück-te.
»Und der ist fünfzigtausend Franken wert?«
»Ohne die Fassung, die gleichfalls wertvoll ist«, antwortete der Abbé.
Und er schloß den Behälter und steckte den Diamanten, der in der Seele Caderousses zu funkeln fortfuhr, wieder in die Tasche.
»Aber wie kommt es, daß Sie im Besitz des Diamanten sind, Herr Abbé?« fragte Caderousse. »Hat Edmund Sie denn zu seinem Erben eingesetzt?«
»Nein, aber zu seinem Testamentsvollstrecker. ›Ich hatte drei gute Freunde und eine Braut‹, sagte er mir; ›alle vier werden mich jedenfalls aufs tiefste beklagen. Einer dieser guten Freunde hieß Caderousse.‹«
Caderousse zitterte.
»›Der andere‹« fuhr der Abbé fort, ohne scheinbar die Erregung Caderousses zu bemerken, »›der andere hieß Danglars; der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich auch.‹«
Ein sardonisches Lächeln zog über das Gesicht des Wirtes, der eine Bewegung machte, um den Abbé zu unterbrechen.
»Warten Sie«, sagte der Abbé, »lassen Sie mich aussprechen, und wenn Sie eine Bemerkung zu machen haben, können Sie es dann tun. ›Der andere, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich auch und hieß Ferdinand. Meine Braut hieß …‹ Ich erinnere mich nicht mehr des Namens der Braut.«
»Mercedes«, fi el Caderousse ein.
»Ja, ganz recht«, fuhr der Abbé mit einem unterdrückten Seufzer fort, »Mercedes.«
»Nun?« fragte Caderousse.
»Geben Sie mir eine Flasche Wasser«, sagte der Abbé.
Caderousse beeilte sich, das Verlangte zu holen.
Der Abbé füllte das Glas und trank einige Schlucke.
»Wo waren wir stehengeblieben?« fragte er, als er sein Glas auf den Tisch stellte.
»Die Braut hieß Mercedes.«
»Ah, richtig! ›Gehen Sie nach Marseille …‹ Dies sind die Worte Dantès’, verstehen Sie?«
»Vollkommen.«
»›Verkaufen Sie den Diamanten, teilen Sie den Erlös in fünf Teile und geben Sie jedem von diesen Menschen, die mich auf der Welt geliebt haben, einen Teil.‹«
»Wieso in fünf Teile?« fragte Caderousse. »Sie haben mir ja nur vier Personen genannt.«
»Weil die fünfte, wie mir gesagt wurde, tot ist … Die fünfte war Dantès’ Vater.«
»Ach ja«, sagte Caderousse, »der Ärmste ist gestorben!«
»Ich habe es in Marseille gehört«, entgegnete der Abbé, indem er sich zusammennahm, um gleichgültig zu erscheinen, »aber es ist schon so viel Zeit seit seinem Tod verfl ossen, daß ich keine Einzelheiten darüber erfahren konnte … Wissen Sie
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