Der Graf von Monte Christo 1
vielleicht etwas von dem Ende dieses Greises?«
»Ei«, sagte Caderousse, »wer sollte das besser wissen als ich …! Ich wohnte Tür an Tür mit dem alten Mann … Es war kaum ein Jahr nach dem Verschwinden seines Sohnes verfl ossen, als er starb.«
»Woran?«
»Die Ärzte nannten seine Krankheit … eine Magen- und Darmentzündung, glaube ich; diejenigen, die ihn kannten, sagten, er sei vor Gram gestorben … und ich, der ich ihn fast habe sterben sehen, sage, daß er …« Caderousse hielt inne.
»Nun?« fragte der Priester gespannt.
»Nun denn, ich sage, daß er vor Hunger gestorben ist!«
»Vor Hunger?« rief der Abbé, von seinem Schemel aufspringend.
»Vor Hunger! Die elendesten Tiere sterben nicht vor Hunger! Die Hunde, die herrenlos in den Straßen umherlaufen, fi nden eine mit-leidige Hand, die ihnen ein Stück Brot zuwirft, und ein Mensch, ein Christ, ist vor Hunger gestorben, mitten unter anderen Menschen, die sich Christen nennen wie er! Unmöglich! Oh, das ist unmöglich!«
»Ich habe gesagt, was ich gesagt habe«, antwortete Caderousse.
»Und du hast unrecht«, sagte eine Stimme auf der Treppe. »Worum kümmerst du dich?«
Die beiden Männer wandten sich um und sahen durch das Geländer das kränkliche Gesicht einer Frau. Es war die Wirtin, die sich bis dahin geschleppt hatte und, auf der letzten Stufe sitzend, den Kopf auf die Knie gestützt, die Unterhaltung mitanhörte.
»Worum kümmerst du dich denn, Frau?« entgegnete Caderousse.
»Der Herr bittet mich um Auskunft, und die Höfl ichkeit fordert, daß ich sie ihm gebe.«
»Ja, aber die Klugheit fordert, daß du sie ihm verweigerst.
Wer sagt dir denn, in welcher Absicht man dich ausfragen will, Dummkopf?«
»In der besten Absicht, ganz gewiß«, sagte der Abbé. »Ihr Mann hat nichts zu fürchten, falls er off en antwortet.«
»Nichts zu fürchten, ja, erst macht man schöne Versprechungen, dann heißt es einfach, daß man nichts zu fürchten habe, und nachher geht man, ohne was von dem, was man gesagt hat, zu halten, und eines schönen Morgens kommt den armen Leuten das Unglück auf den Hals, ohne daß man weiß, woher es kommt.«
»Seien Sie unbesorgt, liebe Frau, von meiner Seite wird Ihnen ge-wiß kein Unglück kommen, das verspreche ich Ihnen.«
Die Frau brummte einige Worte, die man nicht verstehen konnte, ließ ihren Kopf, den sie einige Augenblicke erhoben hatte, wieder auf die Knie fallen und saß wieder fi eberzitternd da, es ihrem Manne anheimstellend, die Unterhaltung fortzusetzen, von der ihr an ihrem Platz kein Wort entgehen konnte.
Während dieser Zeit hatte der Abbé einige Schlucke Wasser getrunken und sich wieder gefaßt.
»War denn aber dieser unglückliche Greis«, fragte er weiter, »so von aller Welt verlassen, daß er eines solchen Todes sterben konnte?«
»O Herr«, antwortete Caderousse, »Mercedes, die Katalonierin, und Herr Morrel hatten ihn nicht verlassen; aber der Alte hatte eine tiefe Abneigung gegen Ferdinand gefaßt, denselben«, fuhr er mit spöttischem Lächeln fort, »den Dantès Ihnen als einen seiner Freunde genannt hat.«
»War er’s denn nicht?« fragte der Abbé.
»Gaspard! Gaspard!« murmelte die Frau oben auf der Treppe. »Paß auf, was du sagst.«
Caderousse machte eine Bewegung der Ungeduld und fuhr, ohne seiner Frau zu antworten, fort:
»Kann man der Freund desjenigen sein, dessen Weib man be-gehrt? Dantès, der ein Herz wie Gold hatte, nannte alle diese Leute seine Freunde … Armer Edmund …! Wahrhaftig, es ist das beste, daß er nichts erfahren hat; es wäre ihm zu schwer geworden, ihnen in der Todesstunde zu vergeben … Und man mag sagen, was man will, ich fürchte mehr die Verwünschung der Toten als den Haß der Lebenden!«
»Dummkopf!« sagte die Frau.
»Wissen Sie denn, was Ferdinand«, fragte der Abbé weiter, »Dantès getan hat?«
»Ob ich’s weiß! Ich dächte wohl!«
»Gaspard, mach was du willst, es steht dir frei«, sagte die Frau;
»wenn du mir aber glaubst, so sagst du nichts.«
»Diesmal, glaube ich, hast du recht, Frau«, entgegnete Caderousse.
»Also, Sie wollen nichts sagen?« fragte der Abbé.
»Wozu?« antwortete Caderousse. »Wenn der Kleine lebte und zu mir käme, um ein für allemal seine Freunde und seine Feinde ken-nenzulernen, dann ja; aber er ist unter der Erde, wie Sie sagen, und kann nicht mehr hassen und sich nicht mehr rächen. Lassen wir die Geschichte also ruhen.«
»Ich soll also den Leuten, die Sie als unwürdige und falsche
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