Der Graf von Monte Christo 1
rechtschaff ener Mann, der bis jetzt allen seinen Verpfl ichtungen mit größter Pünktlichkeit nachgekommen ist. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann, mein Herr; wollen Sie mehr erfahren, so wenden Sie sich an Herrn von Boville, Inspektor der Gefängnisse, Rue de Noailles Nr. ; dieser Herr hat, glaube ich, zweihunderttausend Franken im Hause Morrel stehen, und wenn wirklich etwas zu befürchten ist, so werden Sie ihn wahrscheinlich besser unterrichtet fi nden als mich, da seine Summe größer ist als die meine.«
Der Engländer schien die Bedenken des Bürgermeisters zu würdigen, verabschiedete sich und begab sich in die bezeichnete Straße.
Herr von Boville war in seinem Arbeitszimmer. Bei seinem Anblick machte der Engländer eine Bewegung der Überraschung, die anzudeuten schien, daß er sich dem Herrn, dem sein Besuch galt, nicht zum erstenmal gegenüber befi nde. Herr von Boville schien so ganz von irgendeinem Gedanken eingenommen, so völlig verzweifelt zu sein, daß weder seine Gedanken noch seine Phantasie Muße hatten, in die Vergangenheit zurückzuschweifen.
Der Engländer richtete mit der seinen Landsleuten eigentümlichen Gelassenheit die gleiche Frage an ihn wie an den Bürgermeister.
»Oh«, rief Herr von Boville, »Ihre Befürchtungen sind nur allzu-sehr begründet, und Sie sehen einen Verzweifelten vor sich. Ich hatte zweimal hunderttausend Franken im Hause Morrel stehen; das Geld war die Mitgift meiner Tochter, die in vierzehn Tagen heiraten sollte.
Hunderttausend sind Mitte dieses Monats fällig und hunderttausend Mitte nächsten Monats. Ich hatte Herrn Morrel meinen Wunsch mitgeteilt, daß die Zahlungen pünktlich stattfi nden möchten, und vor kaum einer halben Stunde war er hier, um mir zu sagen, daß er außerstande sein würde, diese Zahlungen zu leisten, wenn nicht bis zum Fünfzehnten sein Schiff , der ›Pharao‹, einliefe.«
»Das sieht ja aber ganz nach einer Fristverlängerung aus«, sagte der Engländer.
»Sagen Sie lieber, es sieht nach einem Bankrott aus!« rief Herr von Boville verzweifelt.
Der Engländer schien einen Augenblick zu überlegen, dann sagte er: »Sie hegen also Besorgnisse wegen dieses Guthabens?«
»Ich betrachte es für verloren.«
»Nun, ich kaufe es Ihnen ab.«
»Sie?«
»Ja, ich.«
»Aber jedenfalls mit riesigem Rabatt.«
»Nein, für zweimalhunderttausend Franken. Unser Haus«, füg-te der Engländer lachend hinzu, »macht dergleichen Geschäfte nicht.«
»Und Sie zahlen?«
»Bar.«
Und der Engländer zog ein Paket Banknoten aus der Tasche, die das Doppelte der Summe ausmachen mochten, die Herr von Boville zu verlieren fürchtete.
Über das Gesicht des Herrn von Boville zog plötzlich ein Freu-denschimmer, doch beherrschte er sich sehr schnell wieder und sagte:
»Mein Herr, ich muß Ihnen bemerken, daß Sie aller Wahrscheinlichkeit nach keine sechs Prozent von dieser Summe erhalten werden.«
»Das ist nicht meine Sache«, antwortete der Engländer, »sondern die Sache des Hauses Th
omson und French, in dessen Namen ich
handle. Vielleicht hat die Firma ein Interesse daran, den Zusammen-bruch eines Konkurrenten zu beschleunigen. Aber was ich weiß, ist, daß ich bereit bin, Ihnen gegen die Übertragung der Schuld diese Summe auszuzahlen; nur beanspruche ich eine Maklergebühr.«
»Gewiß, mein Herr, das ist nicht mehr als billig«, rief Herr von Boville. »Die Provision beträgt gewöhnlich anderthalb. Wollen Sie zwei? Wollen Sie drei? Wollen Sie fünf? Wollen Sie noch mehr?
Sprechen Sie.«
»Herr von Boville«, antwortete der Engländer lachend, »ich bin wie mein Haus und mache nicht dergleichen Geschäfte. Nein, meine Maklergebühr ist anderer Natur.«
»Sprechen Sie, mein Herr.«
»Sie sind Inspektor der Gefängnisse?«
»Seit mehr als vierzehn Jahren.«
»Sie führen die Register über die Neuangekommenen und die Entlassenen?«
»Gewiß.«
»Diesen Registern werden Notizen beigelegt, die sich auf die Gefangenen beziehen?«
»Jeder Gefangene hat seine Akten.«
»Nun gut, ich bin in Rom von einem armen Teufel von Abbé erzogen worden, der plötzlich verschwand. Später habe ich erfahren, daß er auf Schloß If gefangengehalten worden ist, und möchte etwas Näheres über seinen Tod wissen.«
»Wie hieß der Mann?«
»Es ist der Abbé Faria.«
»Oh, dessen erinnere ich mich gut«, entgegnete Herr von Boville;
»er war irrsinnig.«
»So hieß es.«
»Nein, er war’s ganz entschieden.«
»Wohl möglich. Und welcher
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