Der Graf von Monte Christo 1
verloren.«
Nach kurzer Beratung hatten sie dann beschlossen, daß Julie an ihren in Nîmes in Garnison stehenden Bruder schreiben sollte, daß er sofort nach Hause kommen möge. Die armen Frauen fühlten, daß sie all ihrer Kraft bedürften, um den Schlag, der sie bedrohte, auszuhalten.
Zudem hatte Maximilian Morrel, obgleich er kaum vierundzwanzig Jahre alt war, großen Einfl uß auf seinen Vater. Er war ein entschlossener und gerader junger Mann. In dem Augenblick, da es sich darum handelte, eine Laufbahn zu wählen, hatte der Vater ihm keine Zukunft aufdrängen wollen, sondern seine Neigung befragt, und Maximilian hatte sich für die militärische Laufbahn entschieden. Er hatte ausgezeichnete Studien gemacht, die polytechnische Schule besucht und sie vor einem Jahr als Unterleutnant verlassen.
Bei der ersten Gelegenheit hatte er die Aussicht, zum Leutnant be-fördert zu werden. Im Regiment galt Maximilian Morrel als der strenge Beobachter nicht nur aller Pfl ichten des Soldaten, sondern auch des Menschen, und man nannte ihn nur den Stoiker.
Diesen jungen Mann riefen Mutter und Schwester herbei, damit er ihnen in der ernsten Lage, die ihnen bevorstand, eine Stütze sei.
Über den Ernst dieser Lage hatten sie sich nicht getäuscht, denn einen Augenblick, nachdem Herr Morrel zusammen mit Cocles in sein Arbeitszimmer getreten war, sah Julie den letzteren bleich und zitternd wieder herauskommen. Sie wollte ihn fragen, aber er lief an ihr vorbei die Treppe hinunter und rief nur, die Arme zum Himmel erhebend:
»O Fräulein, Fräulein, welch schreckliches Unglück! Wer hätte das je gedacht!«
Einen Augenblick darauf sah Julie ihn mit einigen schweren Büchern, einer Mappe und einem Beutel Geld wieder heraufkom-men.
Morrel sah die Bücher durch und zählte das Geld.
Seine sämtlichen Mittel beliefen sich auf sechs- bis achttausend Franken, seine Eingänge bis zum Fünften auf vier- oder fünftausend, das machte an vierzehntausend Franken; der fällige Wechsel betrug zweihundertsiebenundachtzigtausendfünfhundert Franken.
Es war nicht einmal möglich, die zur Verfügung stehende Summe als Abschlagszahlung anzubieten.
Als Morrel zu Tisch herunterkam, schien er jedoch recht ruhig.
Diese Ruhe erschreckte die beiden Frauen mehr, als es die tiefste Niedergeschlagenheit getan hätte.
Nach Tisch pfl egte Morrel auszugehen und seinen Kaff ee im Klubhaus bei der Zeitung zu nehmen. Heute ging er nicht aus, sondern kehrte in sein Arbeitszimmer zurück.
Cocles schien vollständig die Fassung verloren zu haben; er saß einen großen Teil des Tages auf einer Steinbank im Hof und ließ sich bei einer Wärme von dreißig Grad die Sonne auf den unbedeckten Schädel scheinen.
Emanuel versuchte die Frauen zu beruhigen, aber seinen Worten fehlte die Überzeugungskraft. Er war zu gut in die Geschäfte des Hauses eingeweiht, um nicht zu fühlen, daß eine große Katastrophe über der Familie schwebte.
Die Nacht kam, die beiden Frauen waren wach geblieben und hoff ten, daß Morrel, wenn er von seinem Arbeitszimmer herunterkäme, bei ihnen eintreten würde; aber sie hörten ihn an ihrer Tür vorbeigehen. Er ging leise, jedenfalls um nicht gerufen zu werden, trat in sein Zimmer und schloß die Tür von innen.
Frau Morrel schickte ihre Tochter zu Bett; dann, eine halbe Stunde nachdem Julie sich zurückgezogen hatte, stand sie auf und schlich in den Korridor, um durch das Schlüsselloch zu sehen, was ihr Mann machte.
Im Korridor bemerkte sie einen Schatten, der sich zurückzog; es war Julie, die in ihrer Unruhe ihrer Mutter zuvorgekommen war.
Julie ging auf ihre Mutter zu.
»Er schreibt«, sagte sie.
Die beiden Frauen hatten ihre Gedanken erraten, ohne miteinander zu sprechen.
Frau Morrel bückte sich zum Schlüsselloch hinab. Morrel schrieb, aber, was ihre Tochter nicht bemerkt hatte, bemerkte sie: Er schrieb auf Stempelpapier.
Es kam ihr der schreckliche Gedanke, daß er sein Testament mache; sie zitterte an allen Gliedern, und dennoch hatte sie die Kraft, nichts zu sagen.
Am folgenden Tag schien Herr Morrel vollständig ruhig; er hielt sich wie gewöhnlich in seinem Arbeitszimmer auf, kam wie gewöhnlich zum Frühstück herunter, nur ließ er nach Tisch seine Tochter sich neben ihn setzen, nahm ihren Kopf in seine Arme und hielt das Kind lange an seiner Brust.
Die beiden nächsten Tage verstrichen. Am vierten September abends forderte Herr Morrel von seiner Tochter den Schlüssel zu seinem Arbeitszimmer, den sie besaß.
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