Der Graf von Monte Christo 1
Julie zitterte bei diesem Verlangen.
Warum verlangte ihr Vater diesen Schlüssel, den sie stets gehabt hatte und den man ihr als Kind nur genommen hatte, um sie zu bestrafen?
Sie sah ihren Vater an.
»Was habe ich denn Böses getan, Vater«, fragte sie, »daß du mir den Schlüssel nimmst?«
»Nichts, mein Kind«, antwortete der unglückliche Morrel, dem diese so einfache Frage die Tränen in die Augen trieb; »nichts, aber ich brauche ihn.«
Julie tat, als ob sie den Schlüssel suchte.
»Ich muß ihn in meinem Zimmer liegengelassen haben«, sagte sie.
Dann ging sie hinaus; statt aber auf ihr Zimmer zu gehen, eilte sie nach unten, um Emanuel um Rat zu befragen.
»Geben Sie Ihrem Vater den Schlüssel nicht«, sagte dieser, »und verlassen Sie ihn, wenn es möglich ist, morgen früh nicht.«
Sie versuchte Emanuel zu befragen; aber dieser wußte weiter nichts oder wollte weiter nichts sagen.
Während der ganzen Nacht vom vierten zum fünften September lauschte Frau Morrel an der Wand; bis drei Uhr morgens hörte sie ihren Mann aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab gehen. Erst um drei Uhr warf er sich aufs Bett.
Die beiden Frauen verbrachten die Nacht zusammen; seit gestern abend erwarteten sie Maximilian.
Um acht Uhr trat Herr Morrel in ihr Zimmer; er war ruhig, aber die Aufregung der Nacht war auf seinem bleichen und entstellten Gesicht zu erkennen.
Sie wagten nicht, ihn zu fragen, ob er gut geschlafen habe.
Morrel war liebevoller gegen seine Frau und väterlicher gegen seine Tochter als je; er konnte das arme Kind nicht genug ansehen und küssen.
Julie dachte an den Rat Emanuels und wollte ihrem Vater folgen, als er ging; aber dieser schob sie mit Milde sanft zurück.
»Bleibe bei deiner Mutter«, sagte er.
Julie wollte dennoch mitgehen.
»Ich will es!« sagte er dann.
Es war das erstemal, daß Morrel zu seiner Tochter sagte: »Ich will!«
Aber er sagte es in einem Ton so väterlicher Milde, daß Julie keinen Schritt vorwärts zu tun wagte.
Sie blieb stumm und unbeweglich stehen. Einen Augenblick darauf öff nete sich die Tür wieder, sie fühlte, wie sie von zwei Armen umschlungen wurde und ein Mund sich auf ihre Stirn drückte. Sie sah auf und stieß einen Schrei der Freude aus.
»Maximilian, mein Bruder!« rief sie.
Bei diesem Ruf eilte Frau Morrel herbei und warf sich in die Arme ihres Sohnes.
»Liebe Mutter«, sagte der junge Mann, abwechselnd seine Mutter und seine Schwester ansehend; »was gibt es denn? Was ist vorgefallen? Euer Brief hat mich erschreckt, und nun bin ich da.«
»Julie«, wandte sich Frau Morrel an ihre Tochter, indem sie dem jungen Mann ein Zeichen machte, »geh zu Papa und sage ihm, daß Maximilian gekommen ist.«
Das junge Mädchen eilte aus dem Zimmer, aber auf der ersten Treppenstufe stieß sie auf einen Mann, der einen Brief in der Hand hielt.
»Sind Sie nicht Fräulein Julie Morrel?« fragte dieser Mann mit ausgesprochen italienischem Akzent.
»Ja«, antwortete Julie stammelnd; »aber was wollen Sie von mir?
Ich kenne Sie nicht.«
»Lesen Sie diesen Brief«, sagte der Mann, indem er ihr einen Brief reichte.
Julie zögerte.
»Es handelt sich um das Wohl Ihres Vaters«, bemerkte der Bote.
Das junge Mädchen nahm schnell den Brief, öff nete ihn und las:
»Begeben Sie sich sofort zu dem Haus Allées de Meilhan Nr. , lassen Sie sich von der Pförtnerin den Schlüssel zu der Wohnung im fünften Stock geben, gehen Sie in diese Wohnung, nehmen Sie von der Ecke des Kamins eine gestrickte rotseidene Börse und bringen Sie dieselbe Ihrem Vater.
Es ist von Wichtigkeit, daß er sie vor elf Uhr erhält.
Sie haben versprochen, mir blind zu gehorchen; ich erinnere Sie an Ihr Versprechen.
Sindbad der Seefahrer.«
Das junge Mädchen stieß einen Freudenschrei aus und sah sich nach dem Manne um, der ihr den Brief übergeben hatte, um ihn zu befragen; aber der Mann war verschwunden.
Sie nahm dann den Brief wieder vor, um ihn nochmals zu lesen, und bemerkte, daß er eine Nachschrift hatte. Sie las:
»Es ist von Wichtigkeit, daß Sie diesen Gang persönlich und allein machen; kämen Sie in Begleitung oder käme ein anderer, so würde die Pförtnerin antworten, daß sie von nichts wisse.«
Diese Nachricht dämpfte die Freude des jungen Mädchens gewaltig. Hatte sie nichts zu fürchten, war dies nicht irgendeine Falle, die man ihr stellte?
Julie zögerte; sie beschloß sich Rat zu holen. Aber infolge eines seltsamen Gefühls war es nicht ihre Mutter oder ihr
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