Der Graf von Monte Christo 1
fest.
»Und deine Mutter … deine Schwester … wer ernährt die?«
Ein Schauer überlief den Körper des jungen Mannes. »Vater«, sagte er, »willst du mir sagen, daß ich leben bleiben soll?«
»Ja, ich sage es dir«, antwortete Morrel, »denn es ist deine Pfl icht; du hast einen starken Geist, Maximilian … du bist kein gewöhnlicher Mensch; ich empfehle dir nichts und befehle dir nichts, ich sage dir nur: Prüfe deine Lage, als ob du sie als Unbeteiligter ansä-
hest, und urteile selbst.«
Der junge Mann sann einen Augenblick nach, dann erschien der Ausdruck ruhiger Ergebung in seinen Augen; er nahm mit langsamer und trauriger Bewegung seine Epauletten ab.
»Gut«, sagte er, Morrel die Hand reichend, »stirb in Frieden, Vater, ich werde leben.«
Morrel machte eine Bewegung, wie um sich seinem Sohn zu Füßen zu stürzen, aber Maximilian zog ihn an sich.
»Du weißt, daß ich keine Schuld trage?« fragte Morrel.
Maximilian lächelte. »Ich weiß, Vater, daß du der ehrenhafteste Mensch bist, den es gibt.«
»Gut, es bedarf keiner Worte; jetzt kehre zu deiner Mutter und deiner Schwester zurück.«
»Vater«, sagte der junge Mann, das Knie beugend, »deinen Segen!«
Morrel nahm den Kopf seines Sohnes in beide Hände, zog ihn an sich und küßte ihn mehrere Male.
»Ich segne dich«, sagte er, »in meinem Namen und im Namen dreier Generationen untadeliger Männer; höre also, was sie durch meinen Mund sagen: Den Bau, den das Unglück zerstört hat, kann die Vorsehung wieder aufrichten. Wenn sie mich solch eines Todes sterben sehen, werden selbst die Unerbittlichsten Mitleid mit dir haben; dir wird man vielleicht den Aufschub gewähren, den man mir verweigert hat; dann sieh zu, daß das Wort der Schande nicht ausgesprochen wird; mach dich ans Werk, arbeite, junger Mann, kämpfe heiß und mutig; lebe mit deiner Mutter und Schwester auf das Notwendigste eingeschränkt, damit das Gut meiner Gläubiger sich mit jedem Tag vermehre und unter deinen Händen Frucht trage. Denke, daß es ein schöner, großer, feierlicher Tag sein wird, der Tag der Wiedergutmachung, da du hier in diesem Zimmer sagen wirst: Mein Vater ist gestorben, weil er das nicht vermochte, was ich heute tue; aber er ist ruhig in den Tod gegangen, weil er sterbend die Gewißheit hatte, daß ich es tun würde.«
»O Vater, Vater«, rief der junge Mann, »wenn du doch leben bleiben könntest!«
»Wenn ich leben bleibe, ist alles anders, das Interesse verwandelt sich in Zweifel, das Mitleid in Erbitterung; wenn ich leben bleibe, bin ich nur noch ein Mann, der sein Wort nicht gehalten hat, der seinen Verpfl ichtungen nicht nachgekommen ist, nur noch ein Bankrotteur. Sterbe ich aber, Maximilian, bedenke das, so ist meine Leiche diejenige eines unglücklichen ehrlichen Mannes. Wenn ich leben bleibe, werden meine besten Freunde mein Haus meiden, sterbe ich, so wird ganz Marseille mir weinend das Geleit zur letzten Ruhestätte geben; wenn ich leben bleibe, so schämst du dich meines Namens; bin ich tot, so hebst du den Kopf und sagst: Ich bin der Sohn des Mannes, der in den Tod gegangen ist, weil er zum erstenmal sein Wort nicht zu halten vermochte.«
Der junge Mann stöhnte, aber er schien ergeben.
»Und jetzt«, sagte Morrel, »laß mich allein und such Mutter und Schwester fernzuhalten.«
»Willst du Julie nicht noch einmal sehen?« fragte Maximilian. Der junge Mann sah eine letzte schwache Hoff nung in dieser Begegnung; aber Herr Morrel schüttelte den Kopf.
»Ich habe sie heute morgen gesehen«, sagte er, »und ihr Lebewohl gesagt.«
»Hast du mir nicht etwas Besonderes ans Herz zu legen, Vater?«
fragte Maximilian mit bewegter Stimme.
»Doch, mein Sohn, eine heilige Empfehlung.«
»Sprich, Vater.«
»Das Haus Th
omson und French ist das einzige, das, sei es aus Menschlichkeit oder Egoismus – es ist nicht meine Sache, in den Herzen der Menschen zu lesen –, Mitleid mit mir gehabt hat. Sein Beauftragter, der Mann, der sich in zehn Minuten einfi nden wird, um den Betrag eines Wechsels von zweihundertsiebenundachtzigtausendfünfhundert Franken zu erheben, hat mir eine Stundung von drei Monaten nicht gewährt, sondern geradezu angeboten. Zahle diesem Haus zuerst, mein Sohn, dieser Mann sei dir heilig.«
»Jawohl, Vater«, antwortete Maximilian.
»Und jetzt noch einmal: Lebe wohl!« sagte Morrel. »Geh, geh, ich habe das Bedürfnis, allein zu sein; du fi ndest mein Testament im Schreibtisch in meinem Schlafzimmer.«
Der junge Mann
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