Der Graf von Monte Christo 1
blieb stehen. Er war keiner Bewegung fähig.
»Höre, Maximilian«, sagte sein Vater, »nimm an, ich sei Soldat wie du, ich hätte den Befehl erhalten, eine Schanze zu nehmen, und du wüßtest, daß ich dabei fallen müßte. Würdest du mir nicht sagen, was du mir eben sagtest: Geh, Vater, denn du würdest dich enteh-ren, wenn du bliebest, und lieber Tod als Schande!«
»Ja, ja«, antwortete der junge Mann, »ja.« Dann preßte er Morrel krampfhaft in die Arme. »Leb wohl, Vater!« Und er stürzte aus dem Zimmer.
Als sein Sohn fort war, blieb Morrel einen Augenblick, die Augen auf die Tür geheftet, stehen, dann streckte er die Hand aus, fand einen Glockenzug und klingelte. Nach einem Augenblick erschien Cocles.
Es war nicht mehr derselbe Mensch, diese drei Tage hatten ihn gebrochen. Der Gedanke: das Haus Morrel wird seine Zahlungen einstellen, beugte ihn mehr zur Erde, als zwanzig Lebensjahre es getan hätten.
»Mein lieber Cocles«, sagte Morrel mit einem Ton, der unmöglich wiederzugeben wäre, »du bleibst im Vorzimmer. Wenn der Herr, der schon vor drei Monaten hier war, du weißt, der Beauftragte des Hauses Th
omson und French, kommt, so meldest du ihn an.«
Cocles antwortete nichts, er machte ein Zeichen mit dem Kopf, setzte sich ins Vorzimmer und wartete.
Morrel sank in seinen Stuhl zurück; seine Augen blickten zur Uhr: Es blieben ihm noch sieben Minuten; der Zeiger bewegte sich mit unglaublicher Schnelligkeit, er glaubte ihn vorwärts rücken zu sehen.
Was in diesem höchsten Augenblick in der Seele des Mannes vorging, der im Begriff stand, sich von allem zu trennen, was er auf der Welt liebte, und aus dem Leben zu scheiden, ist unmöglich zu schildern.
Der Zeiger bewegte sich immer weiter, die Pistolen lagen geladen vor ihm; er streckte die Hand aus, nahm eine von ihnen und nannte den Namen seiner Tochter.
Dann legte er die tödliche Waff e wieder hin, ergriff eine Feder und schrieb einige Worte. Es war ihm, als ob er seiner geliebten Tochter nicht genügend Lebewohl gesagt habe.
Wieder sah er zur Uhr, er zählte nicht mehr die Minuten, sondern die Sekunden.
Er nahm die Waff e wieder auf, sein Mund war halb geöff net, die Augen starrten zum Zeiger. Er fuhr zusammen bei dem Geräusch, das er selbst machte, indem er den Hahn spannte.
In diesem Augenblick trat ihm der kalte Schweiß auf die Stirn, eine tödliche Qual beengte ihm das Herz.
Er hörte die Tür zur Treppe in den Angeln kreischen, dann öff ne-te sich die Tür des Arbeitszimmers.
Die Uhr war im Begriff zu schlagen. Morrel wandte sich nicht um, er erwartete, aus Cocles’ Mund die Worte zu hören: »Der Beauftragte des Hauses Th
omson und French!« und hob die Waff e
an den Mund …
Plötzlich hörte er einen Schrei, es war die Stimme seines Kindes.
Er wandte sich um und sah Julie; die Pistole entsank seiner Hand.
»Vater!« rief das junge Mädchen außer Atem und fast überwältigt von Freude. »Gerettet! Du bist gerettet!«
Und sie warf sich in seine Arme, indem sie mit der Hand eine Börse von roter Seide hochhielt.
»Gerettet, Kind!« sagte Morrel. »Was willst du damit sagen?«
»Ja, gerettet, sieh, sieh!« rief das junge Mädchen.
Morrel nahm die Börse und erbebte, denn es kam ihm die unbestimmte Erinnerung, daß diese Börse ihm gehört hatte.
Er entnahm ihr erst den Wechsel über zweihundertsiebenundachtzigtausendfünfhundert Franken. Der Wechsel war quittiert.
Dann kam ein Diamant von Haselnußgröße zum Vorschein und ein Stückchen Pergament mit den Worten:
»Julies Mitgift!«
Morrel fuhr sich mit der Hand über die Stirn, er glaubte zu träumen. In diesem Augenblick schlug die Uhr elf; es war ihm, als ob jeder Schlag des Stahlhammers sein Herz traf.
»Laß sehen, Kind«, sagte er; »erkläre mir. Wo hast du diese Börse gefunden?«
»In einem Haus in den Allées de Meilhan Nummer , auf dem Kamin in einem armseligen Zimmerchen im fünften Stock.«
»Aber diese Börse gehört nicht dir«, rief Morrel.
Julie reichte ihrem Vater den Brief, den sie am Morgen erhalten hatte.
»Und du bist allein in diesem Haus gewesen?« fragte Morrel, nachdem er. gelesen hatte.
»Emanuel hat mich begleitet, Vater. Er sollte mich an der Ecke der Rue du Musée erwarten, aber sonderbarerweise war er bei meiner Rückkehr nicht mehr da.«
»Herr Morrel!« rief eine Stimme auf der Treppe. »Herr Morrel!«
»Das ist seine Stimme«, sagte Julie.
Zu gleicher Zeit trat Emanuel ein, Freude und Bewegung auf dem
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