Der Graf von Monte Christo 1
wir uns die Ehre geben werden, dem Herrn Grafen einen Besuch zu machen.«
Der Bediente ging fort.
»Sie haben entschieden recht, Pastrini«, sagte Albert zum Wirt, »Ihr Graf von Monte Christo ist ein Mann, der weiß, was sich gehört.«
»Sie nehmen also seine Einladung an?« fragte der Wirt.
»Gewiß«, entgegnete Albert.
»Die zwei Plätze im Palazzo Rospoli sind zu verführerisch«, sagte Franz.
Dieses Anerbieten von zwei Plätzen an einem Fenster im Palazzo Rospoli hatte Franz an die Unterredung erinnert, die er in den Ruinen des Kolosseums zwischen dem Unbekannten und dem Trasteveriner belauscht hatte.
Franz brachte einen Teil der Nacht damit zu, daß er von den beiden Erscheinungen träumte und den kommenden Tag ersehnte.
Der folgende Tag mußte alles aufhellen. Er erwachte vor acht Uhr, während Albert noch schlief. Franz ließ den Wirt rufen, der auch mit seiner gewohnten Bereitwilligkeit erschien.
»Pastrini«, sagte er, »soll nicht heute ein Hinrichtung stattfi nden?«
»Ja, Exzellenz.«
»Ich möchte die Zahl der Verurteilten wissen, ihre Namen und ihre Hinrichtungsart.«
»Das fügt sich ganz vortreffl ich, Exzellenz, man brachte mir soeben die Tavoletta.«
»Was heißt das: Tavoletta?«
»Die Tavolette sind Täfelchen aus Holz, die man am Tage vor der Hinrichtung an allen Straßenecken aufhängt und auf denen die Namen der Verurteilten, die Ursache ihrer Verurteilung und die Art ihrer Hinrichtung angegeben sind. Diese Anzeigen sollen die Gläubigen auff ordern, zu Gott zu beten, daß er den Schuldigen eine aufrichtige Reue schenken wolle.«
Er ging hinaus, nahm die Tavoletta, die im Gang aufgehängt worden war, herab und reichte sie Franz.
Franz las: »Es wird hiermit jedermann kundgetan, daß Dienstag, am zweiundzwanzigsten Februar, am ersten Tag des Karnevals, durch den Richterspruch des Tribunals der Rota auf der Piazza del Popolo hingerichtet werden: Andrea Rondolo als schuldig des Meuchelmords an dem höchstachtbaren und hochwürdigen Don Cesare Torlini, Kanonikus der Kirche San Giovanni di Laterano, und Peppino, genannt Rocca Priori, überführt des Einverständnisses mit dem verabscheuungswürdigen Banditen Luigi Vampa und den Leuten seiner Bande. Der erste wird erschlagen, der zweite enthaup-tet. Die barmherzigen Christenseelen werden aufgefordert, für diese zwei unglücklichen Verurteilten Gott um eine aufrichtige Reue zu bitten.«
Das war ganz dasselbe, was Franz zwei Tage vorher in den Ruinen des Kolosseums gehört hatte, und nichts war geändert. Aller Wahrscheinlichkeit nach war also der Trasteveriner niemand anders als der Bandit Luigi Vampa und der Mann im Mantel Sindbad der Seefahrer.
Um neun Uhr begaben sich Franz und Albert in die Gemächer des Grafen von Monte Christo, um ihm den versprochenen Besuch abzustatten. Der Bediente des Grafen forderte sie zum Sitzen auf und ging, sie dem Grafen zu melden. Nach wenigen Augenblicken hob sich der Vorhang der Tür, und der Graf trat ein.
Albert ging ihm zuerst entgegen, doch Franz blieb wie angewur-zelt an seinem Platz.
Der Eintretende war kein anderer als der Mann im Mantel vom Kolosseum, der geheimnisvolle Wirt auf Monte Christo.
»Meine Herren«, sprach der Graf von Monte Christo, als er eintrat, »ich bitte tausendmal um Vergebung, daß ich Sie mir zuvorkommen ließ; allein ich hätte gefürchtet, aufdringlich zu sein, wenn ich Ihnen früher meinen Besuch machte. Außerdem ließen Sie mir melden, daß Sie kommen würden, und ich hielt mich zu Ihrem Empfang bereit.«
»Herr Graf«, entgegnete Albert, »Franz und ich sind Ihnen tausend Dank schuldig; Sie ziehen uns aus einer wahrhaft großen Verlegenheit, denn wir waren schon im Begriff , die phantastisch-sten Fuhrwerke zu ersinnen, als uns Ihre liebenswürdige Einladung zukam.«
»Mein Gott«, sagte der Graf, indem er die beiden jungen Herren einlud, auf einem Diwan Platz zu nehmen, »daran ist der blöde Pastrini schuld, wenn ich Sie so lange in der Bedrängnis ließ; er sagte mir keine Silbe von Ihrer Verlegenheit, während ich, da ich hier ganz allein bin, nur eine Gelegenheit ersehnte, mit meinen Nachbarn bekannt zu werden.«
Die beiden jungen Männer verneigten sich. Franz vermochte kein Wort hervorzubringen, auch hatte er noch keinen Entschluß ge-faßt, und da der Graf durch nichts merken ließ, daß er ihn wie-dererkennen oder von ihm wiedererkannt werden wollte, so wußte er nicht, ob er mit irgendeiner Äußerung eine Anspielung auf die Vergangenheit
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