Der Graf von Monte Christo 1
Vorzimmer oder ins Toilettenzim-mer«, sagte der Vicomte.
Der Diener gehorchte. Beide schwiegen, bis die Blumen fortge-schaff t waren.
»Was ist Monte Christo eigentlich für ein Name?« fragte die Gräfi n, als der Diener die letzte Vase fortgenommen hatte. »Ist es ein Familienname, der Name einer Besitzung oder ein einfacher Titel?«
»Ich glaube, ein bloßer Titel, Mutter. Der Graf hat eine Insel im toskanischen Archipel gekauft und nach dem, was er heute morgen selbst sagte, eine Ordenspfründe gegründet. Übrigens macht er durchaus keine Ansprüche auf den Adel und nennt sich einen Zufallsgrafen, obgleich man ihn in Rom allgemein für einen sehr vornehmen Herrn hält.«
»Sein Benehmen ist tadellos«, sagte die Gräfi n, »wenigstens soweit ich ihn in den paar Augenblicken habe beurteilen können.«
Die Gräfi n sann einen Augenblick nach, dann sagte sie: »Lieber Albert, du hast den Grafen von Monte Christo bei sich zu Hause gesehen – verstehe, es ist die Frage einer Mutter, die ich an dich richte; du hast Scharfblick und mehr Takt, als man in deinem Alter gewöhnlich besitzt –, glaubst du, daß der Graf das ist, was er zu sein scheint?«
»Und was scheint er zu sein?«
»Du hast es eben selbst gesagt, ein vornehmer Herr.«
»Ich muß gestehen, ich habe noch keine feste Meinung über ihn; ich halte ihn für einen Malteser.«
»Ich frage nicht nach seiner Herkunft, sondern nach seiner Person.«
»Ah, das ist etwas anderes; ich habe viel Seltsames von ihm gesehen, daß er mir vorkommt wie eine jener vom Unglück gezeichneten Heldengestalten Byrons, Manfred, Lara oder Werner, wie ein Sproß aus einer alten Familie, der sein väterliches Erbe verloren hat und sich durch die Kraft eines abenteuerlichen Geistes, der ihn über die Gesetze der Gesellschaft erhoben hat, ein neues Vermögen geschaff en hat.«
»Wie sagst du?«
»Ich sage, daß Monte Christo eine Insel mitten im Mittelländischen Meer ist, ohne Bewohner und Besatzung, ein Zufl uchtsort für Schmuggler und Seeräuber aller Nationen. Wer weiß, ob diese würdigen Geschäftsleute ihrem Herrn nicht eine Steuer zahlen?«
»Das ist möglich«, meinte die Gräfi n träumerisch.
»Doch einerlei«, nahm der junge Mann wieder das Wort,
»Schmuggler oder nicht, Sie werden zugeben, Mutter, daß der Graf von Monte Christo ein außergewöhnlicher Mann ist, der in den Pariser Salons den größten Erfolg haben wird; hat er doch heute morgen schon sogar Château-Renaud verblüff t.«
»Wie alt mag er wohl sein?« fragte Mercedes, die dieser Frage augenscheinlich große Bedeutung beilegte.
»Er ist fünf- oder sechsunddreißig.«
»So jung! Das ist unmöglich«, sagte Mercedes.
»Es ist jedoch die Wahrheit. Er hat mir drei- oder viermal und gewiß ohne bestimmte Absicht gesagt: Zu jener Zeit war ich fünf Jahre, zu jener zehn, zu einer andern zwölf. Da meine Neugier mich auf diese Einzelheiten achten ließ, so habe ich die Angaben vergli-chen, und sie haben immer gestimmt. Dieser seltsame Mann ist also fünfunddreißig Jahre alt, davon bin ich überzeugt. Zudem bedenken Sie, wie lebhaft sein Auge, wie schwarz sein Haar ist, und daß seine Stirn, so bleich sie ist, noch keine Falte hat.«
Die Gräfi n ließ unter einer Flut allzu bitterer Gedanken den Kopf sinken.
»Und dieser Mann bringt dir Freundschaft entgegen, Albert?« fragte sie mit einem Schauder.
»Ich glaube es.«
»Und du … erwiderst sie?«
»Er gefällt mir, obwohl Franz von Epinay von ihm sagt, er sei aus der andern Welt zurückgekehrt.«
Die Gräfi n machte eine Bewegung des Schreckens.
»Albert«, sagte sie mit bewegter Stimme, »ich habe dir immer geraten, bei neuen Bekanntschaften vorsichtig zu sein. Jetzt bist du ein Mann und könntest mir Ratschläge geben; doch wiederhole ich dir: sei vorsichtig, Albert.«
»Damit der Rat mir nützen könnte, liebe Mutter, müßte ich doch zuerst wissen, weshalb ich mißtrauisch sein sollte. Der Graf spielt nie; er trinkt nur Wasser mit einem Tropfen spanischen Weins; er hat sich als so reich hingestellt, daß man ihm ins Gesicht lachen müßte, wenn er Geld von mir leihen wollte. Was soll ich denn eigentlich von ihm befürchten?«
»Du hast recht«, sagte die Gräfi n, »und meine Besorgnisse sind tö-
richt, besonders da der Mann dir das Leben gerettet hat. Sag doch, Albert, hat dein Vater ihn gut aufgenommen? Wir sind dem Grafen mehr als bloße Höfl ichkeit schuldig. Der Vater ist manchmal beschäftigt, hat den Kopf voll von
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