Der Graf von Monte Christo 1
und besonders die Zeit, in der wir leben, erheischen von mir, streng zu sein. Ich habe bereits einige politische Anklagen zu vertreten gehabt und habe in dieser Hinsicht meine Proben abgelegt. Leider sind wir noch nicht am Ende.«
»Glauben Sie?« fragte die Marquise.
»Ich fürchte es. Napoleon ist auf der Insel Elba Frankreich sehr nahe; seine Anwesenheit fast im Angesicht unserer Küste erhält die Hoff nungen seiner Anhänger lebendig. Marseille ist voll von Offi
zieren auf Halbsold, die täglich unter nichtigen Vorwänden mit den Royalisten Streit suchen; daher Duelle unter den höheren Klassen, daher Mord und Totschlag im Volke.«
»Ja«, sagte der Graf von Salvieux, ein alter Freund des Herrn von Saint-Méran und Kammerherr des Grafen von Artois, »ja, aber Sie wissen, daß die Heilige Allianz ihn umquartiert.«
»Ja, davon war die Rede bei unserer Abreise von Paris«, bemerkte Herr von Saint-Méran. »Und wohin schickt man ihn?«
»Nach St. Helena.«
»Nach St. Helena! Wo ist das?« fragte die Marquise.
»Eine zweitausend Meilen von hier entfernte Insel jenseits des Äquators«, antwortete der Graf.
»Fürwahr, es ist, wie Villefort sagt, eine große Torheit, daß man solch einen Menschen zwischen Korsika, wo er geboren ist, und Neapel läßt, wo noch sein Schwager regiert, und im Angesicht dieses Italiens, aus dem er ein Königreich für seinen Sohn hat machen wollen.«
»Leider«, sagte Villefort, »haben wir diese Verträge von , und man kann Napoleon nicht anrühren, ohne diese Verträge zu verletzen.«
»Nun, dann wird man sie eben verletzen!« rief Herr von Salvieux.
»Hat er es so genau genommen, als er den unglücklichen Herzog von Enghien hat erschießen lassen?«
»Ja«, sagte die Marquise, »die Heilige Allianz muß Europa von Napoleon befreien, und Villefort befreit Marseille von seinen Parteigängern. Der König regiert entweder, oder er regiert nicht; wenn er regiert, so muß seine Regierung stark und seine Diener müssen unbeugsam sein; auf die Weise wird das Böse verhütet.«
»Leider, gnädige Frau«, antwortete Villefort lächelnd, »kommt der Staatsanwalt immer erst dann, wenn das Böse bereits geschehen ist.«
»Dann ist es an ihm, es wiedergutzumachen.«
»Ich könnte Ihnen wieder sagen, gnädige Frau, daß wir das Böse nicht gutmachen, sondern daß wir es bloß rächen.«
»Oh, Herr von Villefort«, sagte ein hübsches junges Mädchen, die Tochter des Grafen von Salvieux und Freundin des Fräuleins von Saint-Méran, »sehen Sie doch zu, daß Sie einen schönen Prozeß bekommen, während wir in Marseille sind. Ich war noch nie bei einer Schwurgerichtsverhandlung, und es soll sehr interessant sein.«
»Sehr interessant, in der Tat, gnädiges Fräulein«, antwortete der Zweite Staatsanwalt, »denn statt einer erdichteten Tragödie haben Sie ein wirkliches Drama, statt gespielter Schmerzen echte. Der Mann, den man da sieht, kehrt, wenn der Vorhang gefallen ist, nicht nach Hause zurück, um zu Abend zu essen, sich ruhig schlafen zu legen und morgen wieder anzufangen, sondern sein Weg geht ins Gefängnis, wo der Henker auf ihn wartet. Sie sehen, daß es für Menschen, die Aufregungen suchen, kein Schauspiel gibt, das diesem gleichkäme. Seien Sie ruhig, gnädiges Fräulein, wenn die Gelegenheit sich bietet, werde ich es Ihnen verschaff en.«
»Er macht uns beben … und er lacht!« sagte Renée, die ganz blaß geworden war.
»Nun, sehen Sie, es ist ein Duell … Ich habe schon fünf- oder sechsmal die Todesstrafe gegen politische oder andere Angeklagte beantragt … Nun wohl, wer weiß, wie viele Dolche in diesem Augenblick im Dunkel geschliff en werden oder schon gegen mich gerichtet sind?«
»O Gott!« rief Renée, die immer ernster wurde. »Sprechen Sie denn im Ernst, Herr von Villefort?«
»Im vollen Ernst«, erwiderte der junge Beamte lächelnd. »Und diese schönen Prozesse, welche das gnädige Fräulein wünscht, um ihre Neugier, und welche ich wünsche, um meinen Ehrgeiz zu befriedigen, werden die Lage nur noch verschlimmern. Alle diese Soldaten Napoleons, die es gewöhnt sind, blindlings den Feind anzugreifen – glauben Sie, daß die erst nachdenken, wenn sie eine Patrone abschießen oder mit dem Bajonett draufl osgehn? Nun wohl, glauben Sie, daß sie mehr überlegen werden, wenn es sich darum handelt, einen Mann zu töten, den sie für ihren persönlichen Feind halten, als wenn sie einen Russen, Österreicher oder Ungarn tö-
ten sollen, den sie
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