Der Graf von Monte Christo 1
berichte Ihnen seine eigenen Worte, und wenn der Marquis freimütig sein will, so wird er gestehen, daß das, was ich Ihnen eben erzählte, völlig mit dem übereinstimmt, was der König ihm selbst gesagt hat, als er mit ihm vor einem halben Jahr von einem Heiratsplan zwischen seiner Tochter und Ihnen gesprochen hat.«
»Das ist wahr«, bestätigte der Marquis.
»Oh, dann verdanke ich diesem würdigen Fürsten also alles. Dafür will ich auch alles, was in meinen Kräften steht, tun, um ihm zu dienen!«
»Sehen Sie«, sagte die Marquise, »so mag ich Sie leiden. Jetzt soll nur ein Verschwörer kommen, er wird gebührend empfangen werden.«
»Und ich, liebe Mutter«, antwortete Renée, »bitte Gott, daß er Sie nicht erhöre und daß er Herrn von Villefort nur kleine Diebe, unbedeutende Bankerotteure und furchtsame Gauner sende; dann werde ich ruhig schlafen.«
»Das ist«, sagte Villefort lachend, »als ob Sie einem Doktor nur Migränen, Masern und Wespenstiche wünschten, alles Dinge, die nur die Haut verletzen. Wenn Sie mich als Staatsanwalt sehen wollen, so wünschen Sie mir im Gegenteil jene schrecklichen Krankheiten, deren Kur dem Arzt Ehre macht.«
Und als ob der Zufall nur auf die Äußerung dieses Wunsches gewartet hätte, damit er erfüllt würde, trat in diesem Augenblick ein Kammerdiener ein und sagte Villefort einige Worte ins Ohr. Villefort verließ mit einer Entschuldigung den Tisch und kam nach einigen Augenblicken mit freudigem, lächelndem Gesicht zurück.
Renée betrachtete ihn voll Liebe, denn so gesehen war er mit seinen blauen Augen, seiner matten Gesichtsfarbe und dem schwarzen Backenbart, der sein Gesicht umrahmte, in der Tat ein eleganter und schöner junger Mann. Die ganze Seele des jungen Mädchens schien auch an seinen Lippen zu hängen in der Erwartung, daß er den Grund seines plötzlichen Verschwindens erklären würde.
»Sehen Sie«, sagte Villefort, »Sie hatten eben, gnädiges Fräulein, den Ehrgeiz, einen Arzt zum Gatten haben zu wollen; ich habe wenigstens mit den Schülern Äskulaps das gemein, daß die gegenwärtige Stunde nie mir gehört und daß man mich selbst an Ihrer Seite, selbst bei meinem Verlobungsmahle stört.«
»Und aus welchem Grunde stört man Sie?« fragte das junge Mädchen mit leichter Unruhe.
»Ach, wegen eines Kranken, der nach dem, was man mir sagt, in den letzten Zügen liegt; diesmal ist der Fall ernst, und die Krankheit führt aufs Schafott.«
»O Gott!« rief Renée erbleichend.
»Wirklich?« rief die ganze Versammlung wie aus einem Munde.
»Man scheint ganz einfach ein kleines bonapartistisches Komplott entdeckt zu haben.«
»Ist’s möglich?« rief die Marquise.
»Hier ist die Anzeige.«
Und Villefort las:
»Der Herr Königliche Staatsanwalt wird von einem Freunde des Th rones und der Religion darauf aufmerksam gemacht, daß ein gewisser Edmund Dantès, Erster Offi zier des Schiff es ›Pharao‹, welches, von Smyrna kommend, nach Berührung von Neapel und Porto Ferrajo heute morgen hier eingelaufen ist, von Murat einen Brief an den Usurpator und von dem Usurpator einen Brief an das bonapartistische Komitee in Paris erhalten hat.
Der Beweis seines Verbrechens wird sich bei seiner Verhaftung ergeben, denn man wird besagten Brief entweder bei ihm, in der Wohnung seines Vaters oder in seiner Kajüte an Bord des ›Pharao‹ fi nden.«
»Aber dieser Brief, der übrigens nur anonym ist«, sagte Renée, »ist doch an den Staatsanwalt und nicht an Sie gerichtet.«
»Ja, aber der Staatsanwalt ist abwesend; in seiner Abwesenheit ist das Schriftstück an seinen Sekretär gekommen, der Auftrag hatte, die Briefe zu öff nen; er hat also diesen geöff net, nach mir geschickt und, da man mich nicht traf, den Befehl zur Verhaftung gegeben.«
»Also ist der Verbrecher verhaftet?« fragte die Marquise.
»Das heißt der Angeklagte«, warf Renée ein.
»Jawohl, gnädige Frau«, antwortete Villefort, »und, wie ich die Ehre hatte, eben zu Fräulein Renée zu sagen, wenn man den fragli-chen Brief fi ndet, so ist der Kranke sehr krank.«
»Und wo ist der Unglückliche?« fragte Renée.
»Er ist in meiner Wohnung.«
»Gehen Sie, mein Freund«, sagte der Marquis, »lassen Sie sich von Ihrer Pfl icht nicht bei uns zurückhalten, wenn der Dienst des Königs Sie anderswo hinruft.«
»O Herr von Villefort«, bat Renée, die Hände faltend, »seien Sie nachsichtig; es ist Ihr Verlobungstag!«
Villefort ging um den Tisch herum und sagte, sich auf die Lehne
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