Der Graf von Monte Christo 1
Villefort:
»Herr Morrel, wie ich glaube?«
»Ja, mein Herr, ich bin es«, entgegnete der Reeder.
»Treten Sie näher«, fuhr der Beamte mit einer Handbewegung fort,
»und sagen Sie mir, welchem Umstand ich die Ehre Ihres Besuches zuschreiben muß.«
»Sie erraten ihn nicht, mein Herr?« fragte Morrel.
»Nein, ganz und gar nicht; nichtsdestoweniger stehe ich ganz zu Ihren Diensten, wenn es mir möglich ist.«
»Die Sache hängt ganz von Ihnen ab, mein Herr!« versetzte Morrel.
»Erklären Sie sich bitte.«
»Mein Herr!« fuhr der Reeder fort, der im Verlauf der Rede seine Sicherheit wiedergewann, da er sich auf die Gerechtigkeit seiner Sache verließ. »Sie erinnern sich wohl, daß ich einige Tage, bevor die Landung Seiner Majestät bekannt wurde, zu Ihnen kam und Ihre Nachsicht in Anspruch nahm für einen unglücklichen jungen Seemann, den Ersten Offi zier an Bord meiner Brigg. Man beschuldigte ihn, wenn Sie sich dessen noch entsinnen, daß er in Verbindung mit der Insel Elba stehe; diese Verbindungen, die damals ein Verbrechen waren, gelten jetzt als ein Verdienst. Sie dienten dem König Ludwig XVIII. und schonten den Beschuldigten nicht, mein Herr, das war Ihre Amtspfl icht; heute dienen Sie Napoleon, und jetzt müssen Sie den jungen Seemann beschützen, das ist abermals Ihre Amtspfl icht. Ich komme nun, um zu fragen, was aus ihm geworden ist.«
Villefort nahm alle Kräfte zusammen und entgegnete:
»Wie heißt dieser Mann? Seien Sie so gut, mir seinen Namen zu nennen.«
»Edmund Dantès.«
Es wäre Villefort off enbar lieber gewesen, in einem Zweikampf der Waff e seines Gegners auf fünfundzwanzig Schritt gegenüberzu-stehen, als diesen Namen plötzlich aussprechen zu hören; er kam indes nicht aus der Fassung. Auf diese Weise, sagte Villefort zu sich selbst, kann man mich nicht beschuldigen, daß ich die Verhaftung dieses jungen Menschen zu einer persönlichen Angelegenheit gemacht hätte!
»Dantès?« wiederholte er. »Edmund Dantès – sagen Sie?«
»Ja, mein Herr!«
Villefort schlug ein dickes Register auf, das er einem Schubfach entnahm, sah dann noch in einem anderen Aktenbund nach und wandte sich schließlich mit gelassener Miene an den Reeder:
»Sind Sie ganz gewiß, mein Herr, daß Sie sich nicht irren?«
Wäre Morrel nicht eine so arglose Natur und in der Sache besser unterrichtet gewesen, so hätte er es seltsam gefunden, daß sich der Zweite Staatsanwalt selbst herabließ, ihm Rede zu stehen über eine Angelegenheit, die gar nicht zu seinem Bereich gehörte, und er wür-de sich gefragt haben, warum ihn Villefort nicht an die Gefängnis-Gouverneure oder an den Departement-Präfekten gewiesen habe.
Allein Morrel hatte keinen Verdacht mehr gegen Villefort von dem Augenblick an, da er sah, daß der Staatsanwalt keinerlei Furcht an den Tag legte. Villefort hatte richtig gerechnet.
»Nein, mein Herr, ich habe mich nicht geirrt«, sprach Morrel;
»außerdem kenne ich den Jungen schon seit zehn und beschäftige ihn seit vier Jahren. Erinnern Sie sich nicht mehr daran, daß ich Sie vor sechs Wochen gebeten habe, großherzig zu sein, gleichwie ich Sie heute bitte, gerecht sein zu wollen? Sie haben mich damals übel empfangen und mir ungütig geantwortet. Ach, die Royalisten sind damals gegen die Bonapartisten hartherzig gewesen!«
»Mein Herr«, erwiderte Villefort mit seiner gewohnten Gewandtheit und Kaltblütigkeit, »ich war damals Royalist, weil ich die Bourbonen nicht allein für die legitimen Erben des Th rones, sondern
auch für die Auserwählten der Nation hielt. Jedoch die wunderbare Rückkehr, von der wir Zeuge waren, bewies mir, daß ich im Irrtum war; Napoleons Genie hat gesiegt.«
»Ganz recht!« antwortete Morrel mit seiner gutmütig-plumpen Off enheit. »Es macht mir Freude, daß Sie so zu mir reden, und ich betrachte es als ein gutes Vorzeichen für Edmunds Los.«
»Warten Sie«, entgegnete Villefort, ein neues Register durchblätternd, »jetzt habe ich’s … Es ist ein Seemann, nicht wahr, der eine Katalonierin heiratet? Ja, jetzt erinnere ich mich; die Sache war sehr ernst.«
»Wieso?«
»Sie wissen, daß er in das Gefängnis des Justizpalastes geführt wurde, als er von mir wegging?«
»Ja, und dann?«
»Dann machte ich meinen Bericht nach Paris und schickte die bei ihm vorgefundenen Papiere dahin; es war meine Amtspfl icht, und acht Tage nach seiner Verhaftung wurde der Gefangene weg-geführt.«
»Weggeführt?« rief Morrel. »Was kann man aber mit dem armen
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