Der Graf von Monte Christo 1
Hand reichend, fuhr er fort:
»Sie werden vielleicht einmal für Ihren Edelmut belohnt werden; aber da ich nicht fort kann und Sie nicht fort wollen, so ist es wichtig, daß wir den Schacht unter der Galerie verstopfen; dem Soldaten könnte der hohle Klang beim Gehen auff allen, er könnte einen Aufseher darauf aufmerksam machen, und wir wären entdeckt und würden getrennt. Verrichten Sie diese Arbeit, bei der ich Ihnen leider nicht helfen kann; verwenden Sie, wenn es nötig ist, die ganze Nacht darauf, und kommen Sie erst morgen früh nach dem Besuch des Wärters wieder; ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen.«
Dantès nahm die Hand des Abbés, der ihm zulächelte, und verließ die Zelle.
D S
Als Dantès am folgenden Morgen in die Zelle seines Mitgefangenen zurückkehrte, saß Faria mit ruhigem Gesicht da.
In der linken Hand, die er allein noch gebrauchen konnte, hielt er ein Stück Papier, das vorher off enbar lange und eng zusammen-gerollt gewesen war, denn es wollte sich immer wieder von neuem zusammenrollen.
Ohne etwas zu sagen, zeigte er Dantès das Papier.
»Was ist das?« fragte dieser.
»Betrachten Sie es genau«, sagte der Abbé lächelnd.
»Ich betrachte es genau«, antwortete Dantès, »und sehe nichts als ein halbverbranntes Papier mit gotischen Schriftzeichen von einer sonderbaren Tinte.«
»Dieses Papier, mein Freund«, fuhr Faria fort, »ist, wie ich Ihnen, da ich Sie erprobt habe, jetzt rückhaltlos sagen kann, mein Schatz, dessen eine Hälfte von heute an Ihnen gehört.«
Kalter Schweiß trat auf Dantès’ Stirn.
Bis jetzt hatte er es die ganze lange Zeit vermieden, mit Faria von diesem Schatz zu sprechen, dessentwegen man den armen Abbé für verrückt erklärte; bei seinem Zartgefühl hatte Edmund es vor-gezogen, diese Saite nicht zu berühren, und Faria hatte seinerseits geschwiegen. Edmund hatte das Schweigen des Greises für einen Beweis seiner Rückkehr zur Vernunft gehalten, und jetzt schienen ihm die Worte des Abbés nach der furchtbaren Krise, die er durchgemacht hatte, einen Rückfall in geistige Umnachtung anzukündigen.
»Ihr Schatz?« stammelte Dantès.
Faria lächelte.
»Ja«, sagte er; »Sie sind in jeder Hinsicht ein edles Herz, Edmund, und ich erkenne an Ihrer Blässe und Ihrem Zittern, was in diesem Augenblick in Ihnen vorgeht. Dieser Schatz existiert, Dantès, und wenn es mir nicht beschieden gewesen ist, ihn zu besitzen, so werden Sie ihn besitzen. Niemand hat mir Gehör oder Glauben schenken wollen, weil man mich für irrsinnig hielt; aber Sie, der Sie wissen müssen, daß ich es nicht bin, hören Sie mich an und glauben Sie mir nachher, wenn Sie wollen.«
Ach, dachte Edmund bei sich, er hat einen Rückfall bekommen.
Dieses Unglück fehlte mir noch!
»Mein Freund«, sagte er dann zu Faria, »Ihr Anfall hat Sie vielleicht ermüdet, wollen Sie sich nicht etwas Ruhe gönnen? Morgen werde ich, wenn Sie es wünschen, Ihre Geschichte anhören, aber heute will ich Sie pfl egen. Ist es übrigens für uns«, fuhr er lächelnd fort, »mit einem Schatze so eilig?«
»Sehr eilig, Edmund«, erwiderte der Greis. »Wer weiß, ob nicht morgen, vielleicht übermorgen der dritte Anfall kommt! Bedenken Sie, daß dann alles aus wäre. Ja, es ist wahr, oft habe ich mit bitterem Vergnügen an diese Reichtümer gedacht, die das Glück von zehn Familien machen würden und die auch denen, die mich verfolgten, nicht zuteil wurden; dieser Gedanke war mir eine Genugtuung in der Nacht meines Kerkers und der Verzweifl ung meiner Gefangenschaft. Aber jetzt, da ich der Welt aus Liebe zu Ihnen verziehen habe, jetzt, da ich Sie jung und voller Hoff nung für die Zukunft vor mir sehe, jetzt, da ich daran denke, welches Glück Ihnen durch die Of-fenbarung meines Geheimnisses zuteil werden kann, zittere ich vor jedem Zögern, zittere bei dem Gedanken an die Möglichkeit, einen so Würdigen, wie Sie es sind, nicht in den Besitz so großer vergrabener Reichtümer setzen zu können.«
Edmund wandte seufzend den Kopf ab.
»Sie beharren in Ihrer Ungläubigkeit, Edmund?« fuhr Faria fort.
»Hat meine Stimme Sie nicht überzeugt? Ich sehe, daß Sie der Beweise bedürfen. Nun denn, lesen Sie dieses Papier, das ich noch niemand gezeigt habe.«
»Morgen, mein Freund«, sagte Edmund, dem es widerstrebte, auf die Verrücktheit des Alten einzugehen; »ich dächte, wir hätten abgemacht, daß wir erst morgen davon sprechen wollten.«
»Wir wollen erst morgen davon sprechen, aber
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