Der Graf von Monte Christo 1
zerraufte. Endlich zeigte sich eine leichte Färbung auf den Wangen des Kranken, seine beständig off engebliebenen, ausdrucks-losen Augen bekamen wieder Glanz, ein schwacher Seufzer entfuhr seinem Mund, und er machte eine Bewegung.
»Gerettet, gerettet!« rief Dantès.
Der Kranke konnte noch nicht sprechen, deutete aber mit sichtbarer Angst nach der Tür. Dantès horchte und hörte den Wärter; es war gleich sieben Uhr, und Dantès hatte keine Muße gehabt, sich um die Zeit zu kümmern.
Der junge Mann eilte nach der Öff nung, sprang hinein, setzte die Platte über seinem Kopfe wieder ein und eilte zu seiner Zelle.
Einen Augenblick darauf öff nete sich auch seine Tür, und der Wärter fand den Gefangenen wie gewöhnlich auf seinem Bett sitzend.
Kaum hatten sich die Schritte des Mannes im Korridor verloren, so begab sich Dantès, von Unruhe getrieben, ohne ans Essen zu denken, wieder in den unterirdischen Gang, hob mit dem Kopf die Steinplatte in die Höhe und befand sich wieder in der Zelle des Abbés.
Dieser war wieder zu Bewußtsein gekommen, lag aber noch immer ausgestreckt und kraftlos auf seinem Bett.
»Ich fürchtete, Sie nicht wiederzusehen«, sagte er zu Dantès.
»Warum?« fragte der junge Mann. »Glaubten Sie denn zu sterben?«
»Nein, aber alles ist für unsere Flucht bereit, und ich dachte, daß Sie fl iehen würden.«
Die Röte des Unwillens färbte Dantès’ Wangen.
»Ohne Sie?« rief er. »Haben Sie mich wirklich dessen für fähig gehalten?«
»Jetzt sehe ich, daß ich mich geirrt habe«, antwortete der Kranke.
»Ach, ich bin sehr schwach, sehr gebrochen!«
»Mut! Ihre Kräfte werden wiederkommen«, sagte Dantès, indem er sich neben das Bett Farias setzte und dessen Hand ergriff .
Der Abbé schüttelte den Kopf.
»Das letztemal«, sagte er, »dauerte der Anfall eine halbe Stunde, danach hatte ich Hunger und stand allein auf; heute kann ich weder mein Bein noch meinen rechten Arm bewegen, und mein Kopf ist wirr. Das drittemal werde ich vollständig gelähmt werden oder auf der Stelle sterben.«
»Nein, nein, beruhigen Sie sich; Sie werden nicht sterben. Der dritte Anfall, wenn er kommt, wird Sie frei fi nden. Wir werden Sie wie diesmal retten und besser noch, denn wir werden alle notwen-dige Hilfe haben.«
»Mein Freund«, sagte der Greis, »täuschen Sie sich nicht; die eben durchgemachte Krisis hat mich zu ewiger Gefangenschaft verdammt; um zu fl iehen, muß man laufen können.«
»Nun, wir warten noch acht Tage, einen Monat, zwei Monate, wenn nötig; in der Zeit werden Ihre Kräfte wiederkommen. Alles ist für unsere Flucht bereit, und wir können die Stunde und den Augenblick nach Belieben wählen. An dem Tag, wo Sie sich kräftig genug fühlen, um zu schwimmen, werden wir unsern Plan ausführen.«
»Ich schwimme nicht mehr«, antwortete Faria; »dieser Arm ist für immer gelähmt. Heben Sie ihn und sehen Sie, wie schwer er ist.«
Der junge Mann hob den Arm, der schwer zurückfi el. Er seufzte.
»Jetzt sind Sie überzeugt, nicht wahr, Edmund?« fragte Faria.
»Glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage; seit dem ersten Anfall von diesem Übel habe ich unaufhörlich darüber nachgedacht. Ich erwartete es, denn es ist ein Familienerbteil; mein Vater ist bei der dritten Krisis gestorben, mein Großvater auch. Der Arzt, der mir diese Medizin bereitet hat und der kein geringerer als der berühmte Cabanis war, hat mir das gleiche Schicksal vorhergesagt.«
»Der Arzt täuscht sich!« rief Dantès. »Und was Ihre Lähmung betriff t, so hindert sie mich nicht; ich nehme Sie auf die Schultern und halte Sie beim Schwimmen.«
»Kind«, sagte der Abbé, »Sie sind Seemann, Sie müssen also wissen, daß ein Mann mit solch einer Last keine fünfzig Klafter im Meer machen würde. Reden Sie also nicht von Dingen, an die Sie im Grunde Ihres Herzens selbst nicht glauben, so gern Sie es möchten. Ich werde hierbleiben, bis für mich die Stunde der Befreiung schlägt, die jetzt nur meine Todesstunde sein kann. Sie aber, fl iehen Sie! Sie sind jung, gewandt und stark; kümmern Sie sich nicht um mich; ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück.«
»Gut denn«, sagte Dantès, »dann bleibe ich auch.«
Er stand auf, streckte die Hand feierlich nach dem Greis aus:
»Bei dem Blute Christi schwöre ich, daß ich Sie vor Ihrem Tode nicht verlasse!«
Faria sah den jungen Mann an und las in seinen Zügen die Aufrich-tigkeit seines Schwurs. »Wohlan«, sagte er, »ich danke Ihnen und nehme an.« Dann, ihm die
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