Der Graf von Monte Christo 1
das eine oder andere der beiden Fenster ihrer Zellen geworfen; sie wurde sorgfältig zu Pulver zerrieben, und der Nachtwind trug sie fort, ohne daß sie Spuren hinterließ.
Mehr als ein Jahr ging mit dieser Arbeit hin, zu der die beiden nur einen Meißel, ein Messer und einen hölzernen Hebel hatten; während dieses Jahres fuhr Faria mit dem Unterricht Dantès’ fort, indem er mit ihm bald in der einen, bald in der anderen Sprache redete und ihn die Geschichte der Völker und der großen Männer lehrte. Der Abbé, der in der besten Gesellschaft verkehrt hatte, hatte zudem in seinem Wesen eine Art melancholischer Vornehmheit, und Dantès lernte durch seinen Umgang das Benehmen und die Art, sich zu geben, wie man sie sonst nur durch Verkehr in den vornehmsten Kreisen erwirbt.
Nach fünf Vierteljahren war der Gang fertig und die Höhlung unter der Galerie ausgegraben; man hörte die Schildwache auf und ab gehen, und die beiden Gefangenen, die für ihre Flucht eine dunkle, mondscheinlose Nacht abwarten mußten, hatten nur die eine Besorgnis, daß der Boden unter dem Fuß des Soldaten zu frühzeitig einstürzen könnte. Dieser Gefahr wurde mit Hilfe eines kleinen Balkens vorgebeugt, den sie in den Fundamenten gefunden hatten und als Stütze benutzten.
Dantès war dabei, diese Stütze anzubringen, als er plötzlich den Abbé Faria hörte, der in der Zelle des jungen Mannes geblieben war und einen Haken zurichtete, an dem sie die Strickleiter befestigen wollten. Der Abbé rief ihn in ängstlichem Ton. Dantès eilte in seine Zelle und sah den Abbé mitten darin stehen, bleich, mit schweißbedeckter Stirn und krampfhaft zusammengepreßten Händen.
»Mein Gott!« rief Dantès. »Was ist Ihnen denn?«
»Schnell, schnell«, sagte der Abbé, »hören Sie!«
Dantès betrachtete das bleifarbene Gesicht Farias, seine von blauen Rändern umgebenen Augen, die weißen Lippen und das gesträubte Haar und ließ vor Schreck den Meißel aus der Hand fallen.
»Aber was ist denn los?« rief Edmund.
»Ich bin verloren!« sagte der Abbé. »Hören Sie mich an. Ein schreckliches, vielleicht tödliches Übel ergreift mich; der Anfall kommt, ich fühle es. Gegen dieses Übel gibt es nur ein Mittel. Eilen Sie schnell zu meiner Zelle, heben Sie den Fuß meines Bettes hoch; dieser Fuß ist hohl, und Sie werden darin ein kleines Kristall-fl äschchen fi nden, halb gefüllt mit einer roten Flüssigkeit; bringen Sie das, oder vielmehr nein, ich könnte hier überrascht werden.
Helfen Sie mir, in meine Zelle zurückzukehren, solange ich noch einige Kräfte habe. Wer weiß, was sich in der Zeit, die der Anfall dauert, ereignen kann.«
Dantès stieg, ohne die Fassung zu verlieren, obgleich das Unglück, das ihn getroff en hatte, ungeheuer war, in den Gang, zog seinen unglücklichen Gefährten nach und brachte ihn mit unendlicher Mühe in dessen Zelle.
»Danke!« sagte der Abbé, an allen Gliedern zitternd, als ob er aus eiskaltem Wasser käme. »Das Übel kommt, ich werde in Starrkrampf verfallen; vielleicht mache ich keine Bewegung und stoße keine Klage aus, vielleicht aber auch schäume ich, strecke mich und schreie.
Sehen Sie zu, daß mein Schreien nicht gehört wird, denn sonst wür-de man mich vielleicht umquartieren, und wir wären für immer getrennt. Sehen Sie mich unbeweglich, kalt und sozusagen tot, dann, aber erst dann, verstehen Sie wohl, halten Sie mir mit dem Messer die Zähne auseinander und geben Sie mir acht bis zehn Tropfen von dieser Flüssigkeit in den Mund; vielleicht komme ich dann wieder zu mir …«
»Vielleicht?« rief Dantès, schmerzlich bewegt.
»Hilfe, Hilfe!« schrie der Abbé, »ich … ich …«
Der Anfall war so plötzlich und heftig, daß der unglückliche Gefangene nicht zu Ende sprechen konnte; mit weitgeöff neten Augen, verzerrtem Mund und purpurrotem Gesicht wälzte er sich umher, schäumte und brüllte; aber Dantès erstickte das Schreien unter der Decke. Dies dauerte zwei Stunden. Dann sackte der Abbé kraftlos in sich zusammen, wurde weißer als Marmor, streckte sich noch in einem letzten Kampf und blieb reglos liegen. Als er scheinbar tot war, nahm Edmund das Messer, klemmte ihm die Klinge zwischen die Zähne, brachte mit der größten Mühe die Kiefer auseinander und fl ößte ihm zehn Tropfen ein.
Eine Stunde verfl oß, ohne daß der Greis die geringste Bewegung machte. Dantès fürchtete, mit dem Eingeben zu lange gewartet zu haben, und betrachtete ihn, indem er sich mit den Händen das Haar
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