Der Graf von Monte Christo
wäre ich nicht so ungerecht ...
Ich habe keinen schöneren Mann, als du bist, gesehen, und nie einen andern geliebt, als meinen Vater und dich.
Armes Kind, sagte Monte Christo, du hast kaum mit jemand anders gesprochen außer mit mir und deinem Vater.
Wohl! was brauche ich mit anderen zu sprechen? Mein Vater nannte mich seine Freude, du nennst mich deine Liebe, und Ihr beide nennt mich Euer Kind.
Du erinnertst dich deines Vaters, Haydee?
Das junge Mädchen lächelte.
Er ist da und da, sagte die Griechin, ihre Hand auf ihre Augen und auf ihr Herz legend.
Und ich, wo bin ich? fragte lächelnd Monte Christo.
Du, erwiderte sie, du bist überall.
Monte Christo nahm Haydees Hand, um sie zu küssen, aber das naive Kind entzog sie ihm und bot ihm die Stirn dar.
Nun weißt du, Haydee, sagte der Graf, daß du frei, daß du Gebieterin, daß du Königin bist; du kannst deine Tracht beibehalten oder nach deiner Laune aufgeben. Du bleibst hier, wenn du bleiben willst, du fährst aus, wenn du ausfahren willst, es wird stets ein Wagen für dich angespannt sein, Ali und Myrtho begleiten dich überallhin und sind zu deinem Befehl; nur bitte ich dich um eines: Bewahre das Geheimnis deiner Geburt, sage kein Wort über deine Vergangenheit, nenne bei keiner Veranlassung den Namen deines Vaters oder deiner armen Mutter!
Herr, ich habe dir bereits gesagt, daß ich niemand sehen werde.
Höre mich, Haydee, diese orientalische Abgeschlossenheit wird dir in Paris vielleicht unmöglich werden. Fahre fort, das Leben in unsern nördlichen Ländern kennen zu lernen, wie du dies in Rom, in Florenz, in Mailand und in Madrid getan hast; dies wird dir immerhin nützlich sein, magst du nun beständig hier leben oder nach dem Orient zurückkehren.
Das Mädchen schlug seine großen, feuchten Augen zu dem Grafen auf und erwiderte: Oder ob wir nach dem Orient zurückkehren, willst du sagen, nicht wahr, Herr?
Ja, meine Tochter, du weißt wohl, daß ich dich nie verlassen werde. Nicht der Baum verläßt die Blüte, sondern die Blüte trennt sich vom Baume. Ich werde dich auch nie verlassen, Herr, denn ich weiß, daß ich ohne dich nicht leben könnte.
Armes Kind! In zehn Jahren bin ich alt, und in zehn Jahren bist du noch ganz jung.
Mein Vater hatte einen langen, weißen Bart; das hinderte mich nicht, ihn zu lieben; mein Vater zählte sechzig Jahre, und er kam mir schöner vor, als alle jungen Leute, die ich sah.
Doch sage mir, glaubst du, daß es dir hier gefallen wird? – Werde ich dich sehen? – Jeden Tag. Nun, Herr, warum fragst du mich dann? – Ich befürchte, du langweilst dich.
Nein, Herr, denn am Morgen denke ich, daß du kommen wirst, und am Abend erinnere ich mich, daß du gekommen bist; dann habe ich im Herzen drei Gefühle, mit denen man sich nie langweilt: die Traurigkeit, die Liebe und die Dankbarkeit.
Du bist eine würdige Tochter des Epirus, Haydee, du Anmutige, du Poetische, und man sieht, daß du von der in deinem Lande geborenen Familie von Göttinnen abstammst. Sei also unbesorgt, meine Tochter, ich werde es so machen, daß deine Schönheit nicht verloren geht, denn wenn du mich wie deinen Vater liebst, so liebe ich dich wie mein Kind.
Du täuschest dich, Herr, ich liebte meinen Vater nicht, wie ich dich liebe, meine Liebe für dich ist eine andere Liebe; mein Vater ist tot, und ich bin nicht tot, während ich sterben müßte, wenn du sterben würdest.
Der Graf reichte Haydee die Hand mit einem Lächeln voll tiefer Zärtlichkeit; sie drückte wie gewöhnlich ihre Lippen darauf.
Und so in der rechten Stimmung für die Zusammenkunft, die er mit Morel und seiner Familie haben sollte, entfernte er sich, folgende Verse von Pindar murmelnd:
Die Jugend ist eine Blüte, deren Frucht die Liebe ist ...
Glücklich ist der Gärtner, der sie pflückt, nachdem er sie langsam hat reifen sehen.
Der Wagen stand seinen Befehlen gemäß bereit. Er stieg ein, und die Pferde führten ihn wie immer im Galopp fort.
Die Familie Morel.
Der Graf gelangte in wenigen Minuten in die Rue Mesla Nr. 7. Das Haus war weiß, freundlich und davor ein Hof, in dem man zwei kleine Gartenstücke mit schönen Blumen erblickte.
In dem Hausmeister, der ihm die Tür öffnete, erkannte der Graf den alten Cocles, der jedoch den Grafen nicht wiedererkannte. Den ganzen zweiten Stock des freundlichen Hauses bewohnte Maximilian. Dieser überwachte soeben die Wartung seiner Pferde und rauchte eine Zigarre am Eingang des Gartens, als der Wagen des
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