Der Graf von Monte Christo
Schutz verlange, keinen Menschen als meinen Bruder anerkenne, so vermag auch keine von den Bedenklichkeiten, welche die Mächtigen zurückhalten, oder keines von den Hindernissen, welche die Schwachen lähmen, mich zu lähmen oder zurückzuhalten. Ich habe nur drei Gegner, ich sage nicht Besieger, denn durch Beharrlichkeit unterwerfe ich sie: zwei sind die Entfernung und die Zeit. Der dritte und furchtbarste ist mein Zustand als sterblicher Mensch. Dieser allein kann mich auf dem Wege, auf dem ich fortschreite, und ehe ich das Ziel erreicht habe, nach dem ich strebe, aufhalten; alles übrige habe ich berechnet. Alles, was die Menschen die Wechselfälle des Schicksals nennen, habe ich vorhergesehen, und vermag mich auch einer zu treffen, so kann er mich doch nicht niederwerfen. Sterbe ich nicht, so werde ich immer das sein, was ich bin; deshalb sage ich Ihnen Dinge, die Sie nie gehört haben, selbst nicht einmal aus dem Munde der Könige, denn die Könige bedürfen Ihrer, und die andern Menschen haben Furcht vor Ihnen. Wer sagt sich nicht in einer Gesellschaft, die so lächerlich organisiert ist, wie die unsere: Vielleicht werde ich eines Tages mit dem Staatsanwalt zu tun haben!
Aber können Sie dies nicht selbst sagen? Denn sobald Sie in Frankreich wohnen, sind Sie natürlich den französischen Gesetzen unterworfen.
Ich weiß es wohl, erwiderte Monte Christo, doch wenn ich in ein Land gehen muß, fange ich damit an, daß ich durch Mittel, die nur ich besitze, alle Menschen prüfe, von denen ich etwas zu fürchten oder zu hoffen habe, und es gelingt mir, sie ebensogut oder vielleicht noch besser zu kennen, als sie sich selbst kennen. Infolgedessen ist jeder Staatsanwalt mehr in Verlegenheit als ich.
Damit wollen Sie sagen, versetzte Villefort zögernd, daß bei der Schwäche der menschlichen Natur jeder Mensch, Ihrer Ansicht nach, ... Fehler begangen hat?
Fehler oder Verbrechen, sagte Monte Christo gleichgültig.
Und daß Sie allein unter den Menschen, die Sie, wie Sie selbst sagten, nicht als Ihre Brüder anerkennen, versetzte Villefort mit leicht bebender Stimme, ... und daß Sie allein vollkommen sind?
Nein, nicht vollkommen, sondern nur undurchdringlich. Doch genug davon, mein Herr, wenn Ihnen das Gespräch mißfällt. Ich bin dann ebensowenig durch Ihre Justiz bedroht, wie Sie durch mein doppeltes Gesicht.
Nein! nein! mein Herr, entgegnete rasch Herr von Villefort, der ohne Zweifel befürchtete, es könnte scheinen, als wollte er das Terrain aufgeben. Durch Ihr glänzendes und erleuchtendes Gespräch haben Sie mich über den gewöhnlichen Standpunkt erhoben; wir unterhalten uns nicht mehr, wir philosophieren. Sie wissen ja, welche grausamen Wahrheiten sich oft die Theologen in der Sorbonne oder die Philosophen bei ihren Disputationen sagen; nehmen wir an, wir disputieren über soziale Theologie oder theologische Philosophie, so bemerke ich Ihnen ganz einfach: Mein Bruder, du frönst dem Stolze, du stehst über andern, aber Gott steht über dir.
Über allen, erwiderte Monte Christo mit so tiefer Bewegung, daß Villefort unwillkürlich schauderte. Ich habe meinen Stolz für die Menschen, für diese Schlangen, die stets bereit sind, sich gegen den zu erheben, der sie mit der Stirn überragt, ohne sie mit dem Fuße zu zertreten. Doch vor Gott, der mich aus dem Nichts hervorgezogen hat, um mich zu dem zu machen, was ich bin, lege ich diesen Stolz ab.
Dann bewundere ich Sie, Herr Graf, sagte Villefort, der sich zum ersten Mal bei dieser seltsamen Unterredung dieser aristokratischen Anrede dem Fremden gegenüber bediente. Ja, ich sage Ihnen, wenn Sie wirklich stark, wirklich erhaben, wirklich heilig oder undurchdringlich sind, so seien Sie stolz darauf ... aber Sie haben doch irgend einen Ehrgeiz?
Ich hatte einen. Auch ich bin, wie dies allen Menschen einmal im Leben begegnet, vom Satan auf den höchsten Berg der Erde geführt worden; hier zeigte er mir die ganze Welt und sagte zu mir, wie er einst zu Christus gesagt hatte: Sprich, Menschenkind, was willst du, wenn du mich anbetest? Ich sann lange nach, denn seit geraumer Zeit zehrte wirklich ein furchtbarer Ehrgeiz an meinem Herzen; dann antwortete ich ihm: Ich habe stets von der Vorsehung sprechen hören, und dennoch habe ich sie nie erschaut, noch irgend etwas, was ihr gleicht, und das bringt mich auf den Glauben, sie bestehe gar nicht. Ich will selbst die Vorsehung sein, denn das Schönste, das Größte, das Erhabenste, was ich kenne, ist zu belohnen und
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