Der Graf von Monte Christo
Dies waren die beiden einzigen, gleich verzweiflungsvollen Möglichkeiten, die er sich vorstellen konnte.
Vielleicht hatte sie mitten auf der Flucht die Kraft verlassen, und sie war in irgend einer Allee in Ohnmacht gefallen.
Oh! wenn dem so ist, rief er, von seiner Leiter herabspringend, so verliere ich sie durch meine eigene Schuld!
Dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr los und haftete in seinem Geiste mit einer Beharrlichkeit, die schließlich den Zweifel zur Gewißheit werden ließ. Seine Augen, welche die zunehmende Dunkelheit zu durchdringen suchten, glaubten im Schatten einer Allee einen liegenden Gegenstand zu bemerken; er rief endlich laut, und es kam ihm vor, als ob eine unartikulierte Klage zu ihm dringe.
Endlich hörte er halb elf schlagen, er konnte sich unmöglich durch die Hoffnung länger hinhalten lassen, seine Schläfen schlugen mit aller Gewalt, Wolken zogen vor seinen Augen vorüber. Da erkletterte er die Mauer und sprang auf der anderen Seite hinab.
Maximilian war durch Einsteigen in fremdes Gebiet gedrungen; er bedachte die Folgen, die eine solche Handlung haben könnte; doch er war nicht so weit gegangen, um zurückzuweichen. Er strich zuerst an der Mauer hin, kam dann mit einem Sprunge durch die Allee und drang in ein Gebüsch. In einem Augenblick war er am Ende des Gebüsches. Von hier aus konnte er das Haus überschauen. Er sah nun bestätigt, was er bereits vermutet hatte; statt der Lichter, die, wie es an feierlichen Tagen üblich ist, an allen Fenstern hätten erglänzen sollen, sah er nichts als eine graue Masse, die noch durch einen großen Schatten verschleiert war, den eine ungeheure, den Mond verhüllende Wolke herabwarf.
Ein Licht lief gleichsam wie bestürzt an drei Fenstern des ersten Stockes hin. Diese drei Fenster gehörten zur Wohnung der Frau von Saint-Meran. Ein anderes Licht blieb unbeweglich hinter roten Vorhängen. Diese roten Vorhänge verhüllten das Fenster des Schlafzimmers der Frau von Villefort.
Morel erriet alles. So oft hatte er, um Valentine in Gedanken zu jeder Stunde zu folgen, sich den Plan dieses Hauses vorgestellt, daß er es, ohne darin gewesen zu sein, genau kannte. Der junge Mann war noch mehr erschrocken über diese Dunkelheit und dieses Schweigen, als vorher über die Abwesenheit Valentines. Ganz bestürzt, beinahe wahnsinnig vor Schmerz, entschlossen, allem zu trotzen, um Valentine wiederzusehen und sich Gewißheit über das Unglück, das er ahnte, zu verschaffen, trat er bis an den Saum des Gebüsches und schickte sich an, so rasch als möglich den ganz freiliegenden Blumengarten zu durchschreiten, als ein zwar noch entfernter, aber doch vom Winde zu ihm getragener Stimmenton an sein Ohr drang. Bei diesem Geräusch machte er einen Schritt rückwärts in das Blätterwerk hinein, versteckte sich darin völlig und blieb stumm und unbeweglich. Sein Entschluß war gefaßt; war es nur Valentine, so wollte er ihr zurufen; kam sie in Begleitung einer anderen Person, so konnte er sie wenigstens sehen und sich versichern, daß ihr kein Unglück begegnet sei; waren es aber fremde Personen, so konnte er vielleicht ein paar Worte von ihrem Gespräche auffangen und sich das unbegreifliche Rätsel erklären.
Der Mond trat nun aus der Wolke hervor, die ihn verbarg, und Morel sah an der Tür Herrn von Villefort, begleitet von einem Manne in schwarzem Anzuge, erscheinen. Sie gingen die Stufen herab und auf das Gebüsch zu; kaum hatten sie vier Schritte gemacht, als Morel den Doktor d'Avrigny erkannte.
Sobald der junge Mann diese beiden kommen sah, wich er unwillkürlich noch weiter zurück, bis er an den Stamm eines Ahornbaumes stieß, der den Mittelpunkt einer Baumgruppe bildete; hier war er genötigt, stehen zu bleiben. Bald hörte der Sand auf, unter den Tritten der beiden Männer zu knirschen. Ach, sagte der Staatsanwalt, der Himmel erklärt sich offen gegen unser Haus. Welch ein furchtbarer Tod! welch ein Donnerschlag! Versuchen Sie es nicht, mich zu trösten! Ach! es gibt keinen Trost für ein solches Unglück; die Wunde ist zu heftig und zu tief! Tot! Tot!
Ein kalter Schweiß ließ die Stirn des jungen Mannes eisig werden und seine Zähne klappern. Wer war in dem Hause gestorben, das Villefort selbst ein verfluchtes nannte?
Mein lieber Herr von Villefort, antwortete der Arzt mit einem Tone, der den Schrecken des jungen Mannes verdoppelte, ich habe Sie durchaus nicht hierher geführt, um Sie zu trösten, ganz im Gegenteil.
Was wollen Sie mir sagen?
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