Der Graf von Monte Christo
fragte der Staatsanwalt bestürzt.
Ich will Ihnen sagen, daß hinter dem Unglück, das Sie betroffen hat, sich ein anderes, vielleicht noch größeres verbirgt.
Oh! mein Gott! murmelte Villefort, die Hände faltend, was werde ich hören?
Sind wir ganz allein, mein Freund?
Ja, ganz allein. Doch was sollen diese Vorsichtsmaßregeln bedeuten?
Sie bedeuten, daß ich Ihnen eine furchtbare Mitteilung zu machen habe, sagte der Doktor; setzen wir uns!
Villefort fiel mehr auf eine Bank, als er sich darauf setzte. Der Doktor blieb, eine Hand auf seine Schulter legend, vor ihm stehen.
Vor Schrecken außer sich, hielt Morel mit einer Hand seine Stirn, während er mit der andern sein Herz preßte, daß man es nicht schlagen höre.
Reden Sie, Doktor, ich höre, sagte Villefort; schlagen Sie, ich bin auf alles gefaßt.
Frau von Saint-Meran war allerdings sehr alt, aber sie erfreute sich einer vortrefflichen Gesundheit.
Morel atmete zum ersten Male seit zehn Minuten.
Der Kummer hat sie getötet, sagte Villefort; ja, der Kummer, Doktor! Die Gewohnheit, seit vierzig Jahren mit dem Marquis zu leben ...
Es ist nicht der Kummer, mein lieber Villefort, entgegnete der Doktor; der Kummer kann töten, obgleich die Fälle selten sind, aber er tötet nicht in einem Tage, er tötet nicht in einer Stunde, er tötet nicht in zehn Minuten. Villefort antwortete nicht; er hob das Haupt empor und schaute den Doktor mit erschrockenen Augen an. Sie sind während des Todeskampfes da geblieben? fragte Herr d'Avrigny.
Gewiß; Sie sagten mir leise, ich sollte mich nicht entfernen.
Haben Sie die Symptome des Übels wahrgenommen, dem Frau von Saint-Meran erlegen ist?
Sicher. Frau von Saint-Meran hat in Zwischenräumen von einigen Minuten drei aufeinander folgende schwere Anfälle gehabt. Als Sie ankamen, keuchte sie bereits seit mehreren Minuten; sie hatte sodann eine Krise, die ich für einen Nervenanfall hielt; doch ich fing an, wirklich zu erschrecken, als ich gewahrte, wie sie sich auf ihrem Bette mit starren Gliedern und steifem Halse erhob. Da erkannte ich an ihrem Gesichte, daß die Sache ernster sein mußte, als ich glaubte. Als die Krise vorüber war, suchte ich in Ihren Augen zu lesen, aber vergebens. Sie hielten den Puls, Sie zählten die Schläge, und die zweite Krise trat ein, ehe Sie mich wieder anblickten. Diese zweite Krise war furchtbarer als die erste, die Nervenzuckungen wiederholten sich, der Mund zog sich zusammen und wurde ganz blau. Bei der dritten verschied sie. Ich hatte bereits bei der ersten den Starrkrampf erkannt; Sie bestätigten mich in dieser Meinung.
Ja, vor allen Anwesenden, versetzte der Doktor; doch nun sind wir allein ...
Mein Gott, was wollen Sie mir sagen?
Daß die Symptome des Starrkrampfes und der Vergiftung durch vegetabilische Stoffe ganz dieselben sind.
Herr von Villefort sprang auf, doch nach einem Augenblick der Unbeweglichkeit und des Stillschweigens fiel er wieder auf seine Bank und sagte: Oh! mein Gott, Doktor, bedenken Sie auch, was Sie sagen?
Morel wußte nicht, ob er träumte oder wachte.
Hören Sie, sagte der Doktor, ich bin mir des Gewichtes meiner Erklärung und des Charakters des Mannes, dem gegenüber ich sie abgebe, völlig bewußt.
Sprechen Sie mit dem Beamten oder mit dem Freunde? fragte Villefort.
Mit dem Freunde, mit dem Freunde allein in diesem Augenblick; die Ähnlichkeit zwischen den Symptomen des Starrkrampfes und denen der Vergiftung durch vegetabilische Substanzen ist so groß, daß ich nur zögernd unterzeichnen würde, was ich da sage. Ich wiederhole Ihnen auch, daß ich mich nicht an den Beamten, sondern an den Freund wende. Dem Freunde also sage ich: Während der drei Viertelstunden der Krisis studierte ich den Todeskampf, die Krämpfe, den Tod der Frau von Saint-Meran; nach meiner Überzeugung ist sie nun nicht nur vergiftet gestorben, sondern ich vermöchte auch zu sagen, welches Gift sie getötet hat.
Mein Herr!
Alles hat sich gezeigt, Schlafsucht, unterbrochen durch Nervenkrisen, Überreizung des Gehirns, Starre der Zentralteile des Nervensystems: Frau von Saint-Merau ist einer starken Dosis Strychnin oder Brucin unterlegen, die man ihr, nehme ich an, auf Zufall, vielleicht aus Irrtum, beigebracht hat.
Oh! das ist unmöglich! rief Villefort, die Hand des Doktors ergreifend; mein Gott, ich träume, es ist furchtbar, solche Dinge von einem Manne, wie Sie sind, zu hören! Im Namen des Himmels flehe ich Sie an, lieber Doktor, gestehen Sie mir, daß Sie sich
Weitere Kostenlose Bücher