Der Graf von Monte Christo
erschüttert.
Ein Mann von dem mächtigen Geiste des Grafen konnte aber nicht lange in dieser Schwermut schweben, die erhabene Seelen tötet. Ich betrachte die Vergangenheit in einem falschen Lichte, sagte er bei sich, ich kann mich nicht so sehr getäuscht haben. Wie! der Zweck, den ich mir vorgesetzt hatte, wäre ein unsinniger Zweck gewesen! Wie! Ich hätte seit zehn Jahren einen falschen Weg verfolgt! Wie! Eine Stunde hätte genügt, um dem Architekten zu beweisen, das Werk aller seiner Hoffnungen sei ein, wenn nicht unmögliches, doch gotteslästerliches Werk!
Ich will mich an diesen Gedanken nicht gewöhnen, er würde mich verrückt machen. Was meinem Urteile von heute fehlt, ist die rechte Würdigung der Vergangenheit, weil ich diese Vergangenheit vom andern Ende des Horizonts ansehe. In der Tat, je mehr man fortschreitet, desto mehr verschwindet die Vergangenheit nach dem Maßstabe der Entfernung, der Landschaft ähnlich, die man durchwandert. Es begegnet mir, was den Leuten begegnet, die sich im Traume verwundet haben; sie sehen und fühlen ihre Wunde und erinnern sich nicht, sie erhalten zu haben.
Vorwärts, du Wiedergeborener! Vorwärts, du unermeßlich Reicher! Vorwärts, du allmächtiger Seher! Fasse noch einmal die traurige Perspektive deines elenden, hungrigen Lebens ins Auge, durchwandere wieder die Wege, auf die dich das Verhängnis gestoßen und das Unglück geführt, wo die Verzweiflung dich gepackt hat! Es strahlen heute zu viel Diamanten, zu viel Gold, zu viel Glück auf den Gläsern des Spiegels, worin Monte Christo Dantes betrachtet; verbirg diese Diamanten, vertilge diese Strahlen! Reicher, suche den Armen auf; Freier, suche den Gefangenen auf; Wiedererweckter, suche den Leichnam auf!
Während Monte Christo so mit sich sprach, folgte er der Rue de la Caisserie. Es war die Straße, durch die ihn vierundzwanzig Jahre vorher eine schweigsame, nächtliche Wache geführt hatte.
Er ging ans dem Kai hinab durch die Rue Saint-Laurent und wanderte nach der Consigne; das war der Punkt des Hafens, wo man ihn damals eingeschifft hatte. Ein zu Lustfahrten dienendes Schiff kam vorüber; Monte Christo rief dem Patron, der sogleich mit Eifer auf ihn zufuhr.
Das Wetter war herrlich und die Fahrt ein Fest. Am Horizont stieg die Sonne rot und flammend in die Wellen hinab. In der Ferne sah man, weiß und anmutig wie tauchende Möwen, die Fischerbarken, die sich nach den Martigues begaben, und die nach Korsika oder Spanien segelnden Schiffe hinziehen.
Trotz dieses schönen Himmels, trotz dieser Barken, trotz des goldenen Lichtes, das die Landschaft übergoß, erinnerte sich der Graf, in seinen Mantel gehüllt, hintereinander all der einzelnen Umstände dieser furchtbaren Fahrt. Das einzige Licht, das bei den Kataloniern brannte, der Anblick des Kastells If, der ihn belehrte, wohin er geführt wurde; der Kampf mit den Gendarmen, als er sich ins Meer stürzen wollte; seine Verzweiflung, da er sich besiegt sah, und die kalte Empfindung des Karabinerlaufes, der sich wie ein eiserner Ring an seine Schläfe drückte: dies alles trat lebhaft vor sein Gedächtnis.
Da fühlte er allmählich wieder die alte Galle sich regen, die einst Edmond Dantes' Herz überströmt hatte. Für ihn gab es von nun an keinen schönen Himmel, keine anmutigen Barken, kein glühendes Licht mehr; der Himmel umzog sich mit einem Trauerflor, und die Erscheinung des schwarzen Riesen, den man das Kastell If nennt, ließ ihn beben, als ob plötzlich das Gespenst eines Todfeindes vor ihn getreten wäre.
Man kam an Ort und Stelle. Unwillkürlich wich der Graf bis an das Ende der Barke zurück. Der Patron mochte immerhin mit seinem freundlichsten Tone sagen: Wir landen, mein Herr.
Monte Christo erinnerte sich, daß er auf derselben Stelle, auf demselben Felsen von den Wachen fortgeschleppt worden war, daß man ihn, mit der Spitze eines Bajonettes in seine Seite stechend, diese jähe Treppe hinaufzusteigen genötigt hatte.
Der Weg war Dantes sehr lang vorgekommen; Monte Christo hatte ihn sehr kurz gefunden; jeder Ruderschlag ließ mit dem feuchten Meeresstaube eine Million Gedanken und Erinnerungen emporspringen.
Seit der Julirevolution gab es keine Gefangenen mehr im Kastell If, Obgleich er dies wußte, überzog die Stirn des Grafen, als er unter das Gewölbe trat und die schwarze Treppe hinabstieg, doch eine kalte Blässe und eisiger Schweiß. Er erkundigte sich, ob noch irgend ein Gefangenwärter aus der Zeit der Restauration vorhanden
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