Der Graf von Monte Christo
sei. Alle waren entlassen oder hatten andere Ämter erhalten. Der Hausmeister, der ihm das Kastell zeigte, war erst seit 1830 da.
Man führte ihn in seinen eigenen Kerker. Er sah wieder das bleiche Licht durch das enge Luftloch dringen, er sah den Platz, wo einst sein Bett stand, und erkannte hinter dem Bette an den neueren Steinen noch die vom Abbé Faria gemachte Öffnung.
Monte Christo fühlte, wie seine Beine wankten; er nahm einen hölzernen Schemel und setzte sich darauf.
Erzählt man auch noch andere Geschichten von dem Kastell, außer der von Mirabeaus Einkerkerung? fragte der Graf; gibt es irgend eine besondere Überlieferung über diese finsteren Kerker?
Ja, mein Herr, antwortete der Hausmeister, und gerade von diesem Kerker hat mir der Gefangenwärter Antoine eine Geschichte mitgeteilt.
Monte Christo bebte. Der Gefangenwärter Antoine war sein Gefangenwärter gewesen. Er hatte seinen Namen und sein Gesicht beinahe vergessen; doch jetzt sah er ihn wieder vor sich mit seinem dicken Barte, seinem braunen Wams und seinem Schlüsselbund, dessen Klirren er noch zu hören wähnte. Soll ich dem Herrn die Geschichte erzählen?
Ja, sprechen Sie! Und erschrocken darüber, daß er seine eigene Geschichte erzählen hören sollte legte er die Hand auf seine Brust, um ein heftiges Schlagen des Herzens zurückzudrängen.
Dieser Kerker, sagte der Hausmeister, war vor langer Zeit von einem sehr gefährlichen Menschen bewohnt, der um so gefährlicher war, weil er große Gewandtheit und Schlauheit besaß. Gleichzeitig mit ihm bewohnte ein anderer Mensch das Kastell; dieser war nicht bösartig, sondern nur ein armer, närrischer Priester.
Ah! Worin bestand seine Narrheit?
Er bot Millionen, wenn man ihn frei ließe.
Monte Christo schlug die Augen zum Himmel auf, doch er sah den Himmel nicht; es war ein steinerner Schleier zwischen ihm und dem Firmament. Er bedachte, daß ein nicht minder dichter Schleier zwischen den Augen derer, denen der Abbé seine Schätze bot und diesen Schätzen selbst gewesen war.
Konnten sich die Gefangenen sehen?
Oh nein, mein Herr, das war ausdrücklich verboten; doch sie vereitelten das Verbot, indem sie eine Galerie von einem Kerker zum andern aushöhlten.
Wer von beiden machte die Galerie?
Sicher der junge Mann, denn er war erfinderisch und stark, der alte Abbé aber alt und schwach; überdies war sein Geist zu sehr zerrüttet, als daß er einen Gedanken hätte verfolgen können.
Die Blinden! murmelte Monte Christo.
So viel ist gewiß, fuhr der Hausmeister fort, der junge Mann höhlte eine Galerie aus; womit? Das weiß man nicht; aber er höhlte sie aus, und zum Beweise dient, daß man noch die Spur davon sieht. Sehen Sie!
Und er hielt die Fackel an die Wand.
Ah! ja, in der Tat, sagte Monte Christo mit erschütterter Stimme.
Daraus ging hervor, daß die Gefangenen miteinander in Verbindung standen. Wie lange diese Verbindung dauerte, weiß man nicht. Eines Tages wurde nun der alte Gefangene krank und starb. Können Sie sich denken, was der junge tat? fragte der Hausmeister, sich unterbrechend.
Nun?
Er trug den Gestorbenen fort, legte ihn mit der Nase gegen die Wand in sein eigenes Bett, kehrte in den leeren Kerker zurück, verstopfte das Loch und schlüpfte in den Sack des Toten. Haben Sie je dergleichen gehört?
Monte Christo schloß die Augen und empfand wieder alle Eindrücke, die er gehabt, als ihm die grobe Leinwand, die noch die Kälte des Leichnams an sich hatte, das Gesicht streifte.
Der Hausmeister fuhrt fort: Hören Sie, was sein Plan war: Er glaubte, man begrabe die Toten im Kastell If, und so dachte er, die Erde mit seinen Schultern aufzuheben; doch zu seinem Unglück herrschte im Kastell If ein anderer Gebrauch; man band dem Toten eine Kugel an die Füße, um sie ins Meer zu schleudern, was auch diesmal geschah. Der tollkühne Mensch wurde oben von der Galerie ins Wasser geworfen. Am andern Tage fand man den wahren Toten in seinem Bett, und man erriet alles, denn die Totengräber sagten nun, was sie bis dahin nicht zu sagen gewagt hatten, sie hätten in dem Augenblick, wo sie den Körper in die Luft geschlendert, einen furchtbaren Schrei gehört, der auf der Stelle vom Wasser, in dem der Sack verschwand, erstickt worden sei.
Der Graf atmete schmerzlich, der Schweiß lies ihm von der Stirn, die Bangigkeit schnürte ihm das Herz zusammen.
Nein! murmelte er, nein! Der Zweifel, der sich in mir regte, war ein Anfang des Vergessens; doch hier höhlt sich das
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