Der Graf von Monte Christo
Gegenstand war, den er für eine Wolke gehalten hatte. Zwanzig Schritte vor ihm stieg eine Felsenmasse empor, es war die Insel Tiboulen.
Dantes fühlte Land unter seinen Füßen, er machte ein paar Schritte vorwärts und streckte sich mit unsäglichem Dank gegen Gott auf den Granitkanten aus, die ihm zu dieser Stunde weicher schienen, als ihm je das weichste Bett vorgekommen war. Dann entschlummerte er, trotz des Windes, trotz des Sturmes, trotz des beginnenden Regens, völlig erschöpft durch die Anstrengung, und versank in den köstlichen Schlaf eines Menschen, dessen Körper erstarrt, dessen Seele aber im Bewußtsein eines unerwarteten Glückes fortglüht. Nach einer Stunde erwachte Edmond wieder unter dem ungeheuren Krachen des Donners; der Sturm war entfesselt und peitschte die Luft mit seinem geräuschvollen Flügelschlage. Dantes hatte sich mit seinem Seemannsblicke nicht getäuscht; er war wirklich auf der Insel Tiboulen gelandet; er wußte aber auch, daß sie kahl und öde war und nicht den geringsten Zufluchtsort bot. Nach Beendigung des Sturmes wollte er sich daher wieder in die See werfen und nach der zwar ebenfalls unfruchtbaren, aber viel größeren und deshalb gastlicheren Insel Lemaire schwimmen. Ein überhängender Fels bot ihm augenblicklichen Schutz: er flüchtete sich darunter, und beinahe gleichzeitig brach der Sturm in seiner ganzen Wut los. Edmond fühlte, wie der Fels zitterte, der ihn beschirmte; am Fuße der riesigen Pyramide sich brechend, sprangen die Wellen bis zu ihm herauf. Obgleich in Sicherheit, wurde er bei dem furchtbaren Tosen und den blendenden Blitzen von einer Art Schwindel ergriffen; nun erinnerte er sich auch, daß er seit 24 Stunden nichts gegessen, er hatte Hunger, er hatte Durst. Er streckte daher die Hände und denKopf aus und trank das Wasser des Sturmes aus der Höhlung des Felsen.
Als er sich erhob, beleuchtete ein Blitz den weiten Raum. Bei dessen Schimmer sah Dantes zwischen der Insel Lemaire und dem Cap Croiselle, eine Viertelstunde entfernt, ein kleines Fischerfahrzeug erscheinen, das zugleich vom Sturme und der Woge fortgerissen wurde. Eine Sekunde nachher erschien das Schiff, mit furchtbarer Geschwindigkeit sich nähernd, auf dem Gipfel einer zweiten Welle. Gleichzeitig vernahm er ein furchtbares Krachen, und Todesgeschrei erreichte sein Ohr. Dann versank alles in Nacht. Nach und nach legte sich der Wind, der Himmel wälzte gegen Westen große graue Wolken; die dunkle Himmelsbläue erschien wieder mit Sternen, die heller funkelten als je; bald zeigte gegen Osten ein langer rötlicher Streifen am Horizont das Nahen des Morgens.
Dantes blieb unbeweglich und stumm vor diesem großen Schauspiel, als erblickte er es zum ersten Male – er hatte es in der Tat seit der Zeit, daß er im Kastell If war, nicht wieder gesehen. Es mochte ungefähr fünf Uhr sein, und das Meer beruhigte sich immer mehr. In zwei bis drei Stunden, sagte Edmond zu sich selbst, wird der Schließer in mein Zimmer kommen, den Leichnam meines armen Freundes finden, ihn erkennen, mich vergebens suchen und Lärm machen. Dann wird man das Loch in der Wand finden; man wird die Menschen befragen, die mich ins Meer schleuderten und die den Schrei, den ich ausstieß, hören mußten. Sobald die Barken mit bewaffneten Soldaten gefüllt sind, werden sie dem unglücklichen Flüchtling nachsetzen, da man wohl weiß, daß er nicht fern sein kann. Die Kanone wird der ganzen Küste Nachricht geben, daß man einem Menschen, der nackt und ausgehungert umherirrt, keine Zufluchtsstätte geben soll. Was soll dann aus mir werden? Ich hungere, ich friere, ich habe alles, selbst das rettende Messer, das mir im Schwimmen hinderlich war, weggeworfen; ich bin der Gnade des nächsten Bauern preisgegeben, der durch meine Auslieferung zwanzigFranken verdienen möchte; ich besitze weder Kraft, noch einen Gedanken, noch Entschlossenheit mehr.
In dem Augenblick, wo Edmond in völliger geistiger wie körperlicher Erschöpfung seinen Blick angstvoll dem Schlosse If zuwendete, sah er an der Spitze der Insel Pomègue ein lateinisches Segel vom Horizont sich abheben und ein kleines Fahrzeug erscheinen, in dem nur das Auge eines Seemanns eine genuesische Tartane auf der noch dunkeln Linie des Meeres zu erkennen vermochte. Sie kam aus dem Marseiller Hafen und gewann das offene Meer.
Oh! rief Edmond, wenn ich bedenke, daß ich in einer halben Stunde dieses Schiff erreichen könnte, befürchtete ich nicht, als Flüchtling erkannt und
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