Der Greif
Auf den Simsen der Läden um den Platz herum blühten Blumen in Kübeln und Töpfen.
Niemals zuvor hatte ich eine Gemeinschaft gesehen, von der kleinsten Ansiedlung bis hin zur größten Stadt, die soviel Mühe darauf verwendete, sich ein so heiteres Äußeres zu verleihen. Ich glaube, die Leute hier wollten, daß sich ihre Stadt der herzerhebenden Schönheit der Umgebung als
würdig erwies. Und sie konnten sich diesen nicht
lebensnotwendigen, aber um so hübscheren Schmuck auch
leisten. Denn auf einem der Berge oberhalb von Haustaths befindet sich eine reiche Salzmine, die, wie ich hörte, die älteste der Welt sein soll. Die Bergleute haben in den Höhlen primitive Werkzeuge und uralte, vom Salz konservierte
Körper von Einsturzopfern gefunden, Kreaturen von solcher Häßlichkeit und solcher Stärke, daß sie jene Zwerge sein könnten, die immer unter der Erde lebten, wenn sie nicht die Art Lederbekleidung getragen hätten, die auch die heutigen Bergleute noch tragen. Folglich, so meinen die Leute von Haustaths, muß die Mine seit der Zeit, da sich Noahs Kinder über die Erde verteilten, ausgebeutet worden sein.
Auf jeden Fall ist sie noch immer unerschöpflich reich an dem hochwertigsten Salz und füllt die Geldbeutel der
Einheimischen. Sie alle leben seit Generationen hier und sind Abkömmlinge von praktisch allen germanischen
Stämmen, die vor langer Zeit mit römischen Kolonisten
Mischehen eingingen, so daß man unmöglich noch sagen
kann, wer welcher Abstammung ist. Abgesehen davon, daß sie alle Bürger der römischen Provinz Noricum sind.
Die einzigen Ställe lagen am Rand der Stadt. In einem
davon stellten Wyrd und ich gegen ein geringes Entgelt unsere Pferde unter. Dann schulterten wir die Beutel mit unseren persönlichen Habseligkeiten und schlenderten die Seepromenade, die einzige breite Straße in Haustaths,
entlang. Jetzt konnte ich auch die auf dem Wasser
treibenden Objekte identifizieren. Nicht weit vom Ufer wateten graue und rosa Reiher im flachen Wasser oder
meditierten auf einem Bein stehend. Etwas weiter draußen glitten blendend weiße Schwäne über das Wasser, und ganz weit draußen auf dem See lagen Fischerboote von einer
Bauweise, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die einheimischen Fischer nennen sie Faurda, was soviel wie
»die Behenden« bedeutet. Jedes Boot ist geformt wie ein halbierter Melonenschnitz. Sein Bug ragt weit aus dem
Wasser, das Heck, wo der Fischer steht, sieht wie
abgeschnitten aus. Niemand konnte mir den Grund für die Form oder den Namen - nennen, aber ich glaubte kaum, daß dieses Boot, angesichts seiner Bauweise, seinem Namen
viel Ehre machen würde.
An diesem ersten Abend ließen wir uns frisch gefangenen und köstlich gegrillten Hecht munden. Die Taverne, in der wir speisten, ging auf den Marktplatz hinaus. Der Wirt, ein stämmiger Mann namens Andraias, war ein alter Bekannter Wyrds. Die Frontseite seiner Taverne war mit Schnörkeln verziert und von Blumenkästen flankiert, aber die
rückwärtige, auf den See hinausgehende Wand bestand aus Holzplanken, die der Caupo bei gutem Wetter entfernte. So genossen wir, als wir aßen und tranken, einen schönen
Ausblick auf den im Dämmerlicht liegenden Haustaths-Swais und die noch vom Sonnenlicht erleuchteten Bergspitzen
darüber. Wir warfen den unter unserer Terrasse
vorbeiziehenden Schwänen Brotkrümel zu und riefen hin
und wieder über den See, um die Antwort der Nymphe Echo immer schwächer und schwächer zurückhallen zu hören.
Nach dem Essen zogen wir uns in unsere Federbetten im
Obergeschoß zurück. Lange lag ich noch mit dem Kopf zum Fenster gewandt wach und sah dem Mond zu, der hinter
einem Bergkamm heraufzog und den tiefblauen See mit
silbrigem Glitzern überzog. Als ich meine Lider schloß, ging ein Tag zu Ende, den ich noch heute zu den glücklichsten meines ganzen Lebens zähle.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Wyrd schon
auf, wusch sich und zog sich an. Bevor er seine Gamaschen überzog, hielt er kurz inne und examinierte einen kleinen roten Kratzer auf seinem Schienbein.
»Hast du dich verletzt?« fragte ich schläfrig.
»Die Wölfin«, murmelte er. »Sie hat mich erwischt, bevor ich sie erschlagen konnte. Ich hatte mir Sorgen gemacht, aber die Wunde heilt gut.«
»Warum sollte ein Kratzer dich besorgen? Ich habe dich schon in einem weitaus schlimmeren Zustand erlebt,
nachdem dich ein Beutel voller Wein erwischt hat.«
»Sei nicht respektlos gegenüber
Weitere Kostenlose Bücher