Der Greif
erteilte Livia die Erlaubnis, mich unter die Erde zu führen, und sagte, er hoffte, ich würde den Ausflug in das Unternehmen, auf das er so stolz sei, genießen.
Am Eingang machten uns die kommenden und gehenden
Bergarbeiter ehrerbietig Platz. Livia nahm für jeden von uns eine Lederschürze von einem Stapel. Als ich mir die Schürze um den Bauch band, lachte sie laut los.
»Nein, nicht so,« sagte sie. »Die Schürze muß nach
hinten. Hier, dreh dich um.«
Verwirrt wandte ich ihr den Rücken zu. Während ich in die Dunkelheit des Mineninneren vor mir starrte, hielt sie die Schürze so hin, daß sie über mein Hinterteil hinunterhing.
»Verknote die Riemen vor deinem Bauch«, rief sie. »Und jetzt zieh die Schnüre so weit es geht unter den Beinen hindurch und halte sie mit beiden Händen fest.«
Kaum hatte ich das getan, gab sie mir kichernd einen
Stoß, der mich in die Dunkelheit schleuderte. Meine Füße rutschten unter mir weg, und plötzlich sauste ich auf der Schürze eine steile, aus dem Salz geschlagene Rinne
hinunter, die von unzähligen Rutschpartien so glatt wie Eis poliert worden war. Mir stockte der Atem, als ich - mir kam es vor wie eine Ewigkeit, in Wahrheit dauerte es wohl nur ein paar Herzschläge - durch die schwärzeste Nacht in die
Eingeweide der Erde stürzte. Doch dann ließ das Gefälle nach, bis die Rinne fast eben verlief, und ich sah ein Licht vor mir. Trotzdem hatte ich immer noch eine ziemliche
Geschwindigkeit drauf, als die Rinne abrupt abbrach und ich auf eine Unterlage aus federndem Tannenreisig fiel.
Benommen blieb ich einen Moment sitzen, bevor ich einen Schlag erhielt, daß mir die Luft wegblieb. Livia war mit ihren Füßen in meinen Rücken gerutscht, und wir beide stürzten übereinander auf den Reisighaufen.
»Trampel«, schimpfte sie und kicherte, als wir uns
voneinander lösten. »Du würdest hier unten nicht lange überleben. Komm. Beweg dich! Oder du wirst noch unter
Bergleuten begraben werden.«
Ich rollte mich gerade noch rechtzeitig zur Seite, bevor ein ganzer Schwung Männer aus der Dunkelheit in den von
Fackeln erleuchteten Korridor mit Wänden aus Salz, in dem wir gelandet waren, geschossen kam. Jeder hatte einen
leeren Korb bei sich, sprang flink von dem Reisighaufen weg, um dem nächsten Platz zu machen, und trottete den Gang hinunter. Ihnen entgegen kam eine Gruppe aus dem
Inneren der Mine, schwer gebeugt unter der Last der vollen Körbe. Ein Vormann hielt sie am Fuße einer sehr langen, aus sehr dicken Sprossen und Stangen gefertigten Leiter an und winkte sie dann einzeln weiter zu dem quälenden
Aufstieg in die Dunkelheit über ihnen.
Als ich wieder zu Atem gekommen war, führte mich Livia durch den Korridor weiter, um einige Ecken herum und an Hallen vorbei, die hell erleuchtet waren. Dazu bedurfte es nur weniger Fackeln, denn das durchscheinende Salz
sammelte das Licht und brach und reflektierte es in alle Richtungen. Zwischen den leuchtendroten Flecken der
Fackeln liefen wir durch ein sanfteres, orangefarbenes Leuchten, das gleichmäßig von den Wänden, Decken und
dem Boden ausgestrahlt zu werden schien. Es war, als
befänden wir uns in einem riesigen Hyazinth. Auf irgendeine mir verborgen bleibende Art und Weise wurde jeder Teil der Mine belüftet. Überall war eine leichte Brise zu spüren, die nicht nur selbst die tiefsten Schächte mit Frischluft versorgte, sondern auch den Rauch der Fackeln mit sich trug, so daß das Salz an keiner Stelle rauchig wurde. In fast jedem Korridor waren schwerbeladene Männer unterwegs, die Livia und mir entgegenkamen, und Männer mit leeren Körben, die in unsere Richtung gingen. Nur manche Gänge waren
verlassen, und ich fragte Livia danach.
»Sie führen zu Stellen, wo das Salz bis auf den Fels
abgetragen worden ist«, sagte sie. »Aber ich zeige dir keinen der Strebe, die abgebaut werden, denn dort besteht immer die Gefahr eines Höhleneinsturzes. Einer solchen Gefahr würde ich dich nicht aussetzen.«
»Vielen Dank«, sagte ich erleichtert.
»Es gibt jedoch einen bestimmten Ort, den ich dir zeigen möchte, sehr tief unter dem Berg.«
Sie machte ein Zeichen, und ich sah, daß wir am Anfang einer anderen Rinne standen und die Bergarbeiter uns Platz gemacht hatten. Dieses Mal spielte Livia mir keinen Streich, und ich verbeugte mich höflich, um ihr den Vortritt zu lassen.
Jetzt fand ich die Rutschpartie auf der Lederschürze eher erheiternd. Aber als wir immer neue Korridore
durchschritten,
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