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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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ich unser Ziel erblickte. Eines Tages gegen Mittag ritten wir um den Felsvorsprung eines hohen Berges. Wyrd zügelte sein Pferd und wies mit einer
    ausladenden Geste auf die Landschaft unter uns. Der
    Anblick raubte mir den Atem.
    »Haustaths«, sagte Wyrd stolz. »Die Hallstatt.«
    2
    Zu meinen Lebzeiten habe ich sowohl Roma Flora als
    auch Konstantinopolis Anthusa gesehen. Beide, der
    lateinische sowie der griechische Beiname, bedeuten »die Blühende«, und in der Tat, beide Städte verdienen ihn. Ich war in Vindobona, der nach Rom zweitältesten Stadt des Imperiums, in Ravenna und in vielen anderen historischen Städten. Ich habe das Land entlang der Donau gesehen,
    vom Schwarzen Meer bis zum Schwarzwald, und bin mit
    Schiffen über das Mittelmeer und das Sarmatische Meer
    gefahren. Ich habe also mehr gesehen, als die meisten
    Leute jemals sehen werden. Aber Haustaths ist mir immer noch als das schönste und bezauberndste Fleckchen Land dieser Erde in Erinnerung geblieben, das ich jemals erblickt habe.
    Von dem Berg aus, von dem Wyrd und ich
    hinunterblickten, erschien die Hallstatt wie eine längliche Schüssel, umgeben von hohen Gipfeln, deren Flanken
    blaues Wasser umschloßen. Das Wasser war ein See, der
    abgrundtief sein mußte, denn die Flanken der Berge fielen fast senkrecht ins Wasser ab, wo sie sich irgendwo tief, tief unten wieder trafen. Zwischen den Flanken gab es einige flacher ins Wasser abfallende Stellen und an den
    Steilhängen selbst waren ein paar Matten sichtbar. Mehrere der auf der anderen Seeseite liegenden Bergriesen waren so hoch, daß selbst jetzt noch, am Anfang des Sommers, Schnee auf ihnen lag. Hier und da zeigten die Berge
    Felsspitzen und Felswände aus braunem Sandstein. Aber
    größtenteils bedeckte sie dichter Wald, der von unserem Aussichtspunkt aus einem dichtgewobenen, welligen und
    gefalteten grünen Vlies glich mit blaugrünen Schatten, wo immer eine Wolke über es hinwegzog.
    Der See, der Haustaths-Saiws, war winzig im Vergleich
    zum Bodensee, aber unvergleichlich strahlender und
    einladender. Das Blau - aah, dieses Blau! - von da, wo ich den See zum ersten Mal erblickte, erschien er wie ein
    kostbarer blauer in die Falten des grünen Vlieses
    eingefaßter Juwel. Es sollte lange dauern, bis ich wieder so ein dunkles und zugleich so leuchtendes Saphirblau zu
    Gesicht bekam, und dann mußte ich unwillkürlich an den Haustaths-Saiws denken.
    Auf dem Wasser schwamm etwas, aber was, war von hier
    oben nicht zu erkennen. Haustaths lag auf einer der flachen Stellen am Seeufer. Nur die Häuser waren sichtbar, mit ihren steil aufgeschlagenen Dächern, damit im Winter der Schnee abrutschen konnte, außerdem der rechteckige Marktplatz und einige Stege, die ins Wasser hinausreichten. Es lag so tief unter uns, daß es an die Spielzeughäuser erinnerte, die die Holzschnitzer für Kinder machen, und ich konnte mir kaum vorstellen, wie so viele Häuser auf so engem Raum stehen konnten.
    Wir ritten auf einem Pfad hinab, der einem breiten, lustig über eine Serie von Wasserfällen in die Tiefe rauschenden Strom folgte. Als wir uns Haustaths näherten, konnte ich sehen, wie die Stadt gebaut war. Nur wenige Gebäude,
    darunter eine ansehnliche Kirche und der von Läden,
    Tavernen und Wirtshäusern umringte Marktplatz, waren auf ebenerdigem Grund errichtet worden, da es kaum flaches Gelände gab. Die anderen Häuser und Bauwerke der Stadt waren ineinander verschachtelt und türmten sich
    übereinander, bis auf halber Höhe der steilen Bergflanke.
    Hier trennten keine rechtwinklig angelegten Straßen die Häuser, sondern schmale Gassen, und in Bergrichtung
    verliefen keine Straßen, sondern Treppen. Die Gebäude
    waren so dicht aufeinandergebaut, daß einige sehr schmal, dafür aber zwei oder sogar drei Stockwerke hoch waren.
    Auf den ersten Blick erschien die Lage Haustaths
    gefährlich, aber zweifellos war die Stadt sehr alt. Die Häuser waren aus Stein oder dicken Balken errichtet, die Dächer mit Schiefersteinen, Dachziegeln oder massiven Schindeln
    gedeckt. Fast alle Vorderwände waren weiß getüncht und mit vielfarbigen Schneckenverzierungen dekoriert. An
    manchen rankte sich blühender Wein oder sogar ein
    blühender Baum hoch, kunstvoll getrimmt, flach an der
    Hausfront und um die Türen und Fenster herum wachsend.
    Mitten auf dem Marktplatz stand ein Brunnen, aus dessen vier Speirohren sich beständig Wasser ergoß, das in Röhren von dem Fluß, dem wir gefolgt waren, hergeleitet wurde.

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