Der Greif
Weisen kamen aus
Persien.«
»Je nun«, sagte der Abt, »es gibt solche und solche. Die Goten sind Barbaren, Wilde, Bestien. Wie ihr Stammesname schon sagt, sie sind Gog und Magog, feindliche Mächte, deren unheilvolles Kommen von Ezekiel und in der
Offenbarung vorausgesagt wird.«
»Dann sind die Goten so hassenswert wie die Heiden.
Oder die Juden.«
»Nein, Thorn, die Goten sind noch viel verwerflicher, denn sie sind Ketzer, Arianer. Ein Arianer ist ein Mensch, der das Licht der Wahrheit zwar kennt, jedoch üble Ketzerei dem rechtmäßigen Glauben vorzieht. Der heilige Ambrosius sagt, daß Ketzer viel größere Gotteslästerer sind als der
Antichrist, ja der Teufel selbst. Thorn, mein Sohn, wenn die Ostgoten und die Westgoten nur Barbaren und Wilde wären, wäre alles halb so schlimm. Weil sie aber obendrein Arianer sind, müssen wir sie verabscheuen.«
Weder Dom Clemens noch irgend jemand sonst konnte
damals wissen, daß noch zu meinen Lebzeiten die ganze
uns bekannte Welt von arianischen Goten regiert werden sollte; daß einer von ihnen der erste Herrscher seit
Konstantin sein sollte, der den Beinamen »der Große«
erhielt; daß er seit Alexander der erste sein sollte, der diesen Beinamen verdiente - und daß ich, Thorn, neben ihm sitzen würde.
3
Was die weltliche Erziehung anlangt, die ich in St. Damian erhielt, so begann auch sie in meiner frühesten Jugend.
Mein Lehrer war Bruder Methodius, ein Gepide, der Gotisch sprach. Wie Kinder eben sind, stellte ich immerfort dumme Fragen, und der Mönch beantwortete sie unter Aufbietung all seiner Geduld nach bestem Wissen.
Womöglich aus reiner Notwehr brachte Bruder Methodius
mir bei, Gotisch zu lesen, und ich überredete Bruder
Hilarion, mich in Latein zu unterrichten. Bis auf den heutigen Tag sind dies die beiden einzigen Sprachen, von denen ich behaupten kann, sie einigermaßen zu beherrschen. Auf
Griechisch kann ich mich zur Not unterhalten, von anderen Sprachen kenne ich nur einzelne Wörter. Aber man
vergesse nicht: Noch kein Mensch hat alle Sprachen der Welt gesprochen, außer vielleicht die heidnische Nymphe Echo.
Natürlich war die weltliche Erziehung eines
Klosterschülers ähnlich wie der religiöse Unterricht allein auf das Studium frommer Werke begrenzt, gegen welche die
heilige Mutter Kirche keine Einwände hatte. Doch Dom
Clemens verbot mir nie eines der Bücher, die ich im
Skriptorium fand. Ich vertiefte mich also pflichtbewußt in die lateinischen Werke der Kirchenväter und die von ihnen
gebilligten Werke wie Sallusts Geschichtsbücher, Ciceros Reden oder Lukians kunstvolle Darstellungen, las daneben aber auch viele Werke, die von der Kirche nicht erlaubt waren. Neben den Komödien von Terenz, die aufgrund ihrer
»erhebenden« Wirkung erlaubt waren, las ich die Komödien von Plautus und die Satiren von Persius, die als
»menschenfeindlich« verpönt waren. Das Ergebnis meiner unersättlichen Neugier war, daß mein Kopf schließlich mit einer Mischung widersprüchlicher Überzeugungen und
Philosophien vollgestopft war.
Die meisten Dinge, die ich lernen mußte, stellten sich mit der Zeit als falsch heraus, die meisten Dogmen als nicht haltbar und die meisten Argumente als unbegründet. Und vieles, was einem Kind genutzt hätte, konnte oder wollte kein Mönch unterrichten. Zum Beispiel wurde mir immer
wieder eingebleut, jegliche sexuelle Aktivität sei sündhaft, schmutzig und böse, schon der Gedanke daran sei
verwerflich und sofort zu verdrängen. Niemand jedoch sagte mir, wovor genau ich mich in acht nehmen sollte - daher meine völlige Ahnungslosigkeit, als ich Bruder Petrus und dann Schwester Deidamia begegnete.
Obwohl ich viel wertloses Zeug lernen mußte und vieles Wichtige nicht erfuhr, lernte ich wenigstens lesen, schreiben und rechnen. Mit diesen Fähigkeiten und Dom Clemens'
Erlaubnis, mich frei im Skriptorium zu bewegen, verschaffte ich mir noch in St. Damian Zugang zu vielen wissenswerten Dingen und Gedanken, die im vorgesehenen Lehrplan nicht enthalten waren. Und was ich auf diese Art ganz allein für mich lernte, ermöglichte mir, viele der Lehrsätze, mit denen meine Lehrer mich überhäuften, zumindest in Frage zu
stellen - rein gedanklich natürlich, denn ich wagte nicht, meinen Zweifeln laut Ausdruck zu verleihen. Mit der Zeit lernte ich immer mehr für mich selbst, und es gelang mir, den Ballast falscher Lehren und erbärmlicher Lügen
abzuwerfen, mit denen unsere Lehrer uns füttern
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