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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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mußten.
    Ungefähr ein Jahr bevor ich St. Damian verließ,
    verschaffte meine überdurchschnittliche Bildung mir die Möglichkeit herauszufinden, was außerhalb der
    Klostermauern, des Tales und der uns umgebenden Berge, ja sogar Burgunds vor sich ging. Bruder Paulus, Dom
    Clemens' persönlicher Schreiber, wurde krank und
    bettlägerig. Trotz unserer Gebete und der besten Pflege, die ihm unser Wundarzt angedeihen lassen konnte, siechte
    Bruder Paulus dahin und starb schließlich.
    Mir wurde die unerwartete Ehre zuteil, ihm als Schreiber nachzufolgen oder vielmehr seine Aufgaben meinen
    anderen Pflichten hinzuzufügen. Damals konnte ich bereits Gotisch und Latein lesen und schreiben, was keiner der Präzeptoren im Skriptorium oder Chartularium von sich
    behaupten konnte. So gab es unter den Mönchen nur wenig Protest darüber, daß ich bevorzugt worden war. Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, daß ich natürlich nicht halb so schnell und akkurat wie Bruder Paulus darin war, die Worte des Abts zuerst in Wachs zu ritzen und dann auf Pergament zu schreiben. Doch Dom Clemens gestand meiner
    Unerfahrenheit einiges zu. Er diktierte langsamer und
    genauer als zuvor, und er ließ mich zuerst eine Rohfassung seiner Diktate anfertigen und korrigierte die Fehler, bevor ich alles ins reine schrieb.
    In Dom Clemens' Korrespondenz ging es überwiegend um
    einige sehr spezielle Aspekte der Kirchenlehre und die Interpretation dunkler Bibelstellen. Was ich dabei von der Kirche erfuhr, rief nicht nur Bewunderung in mir hervor.
    4
    Ich will nicht den Eindruck erwecken, die dreizehn Jahre, die ich in Balsan Hrinkhen verbrachte, hätten nur aus harter Arbeit und fleißigem Lernen bestanden. Das breite Tal war wunderschön, und manchmal stahl ich mir etwas Zeit, um mich an dieser Schönheit zu erfreuen. Vielleicht habe ich auf meinen Ausflügen in die freie Natur genausoviel gelernt wie von meinen Lehrern und den Schriftrollen und Büchern.
    In Balsan Hrinkhen gab es auch ein Dorf, das aber nicht größer war als eines der beiden Klöster mit seinen
    Gebäuden. Es bestand nur aus den strohgedeckten
    Lehmhütten der Bauern, die eigene oder dem Kloster
    gehörende Felder bestellten, und den Werkstätten der
    Handwerker: einer Töpferei, einer Gerberei, einer
    Wagenbauerei und einigen anderen. Das Dorf verfügte über keine einzige der Annehmlichkeiten der Zivilisation, es hatte nicht einmal einen Marktplatz, weil hier nicht gehandelt wurde. Was die Dörfler selbst nicht anbauen konnten, wurde aus einem der größeren Dörfer weiter oben in den Bergen herangekarrt.
    Unser Tal wurde nicht wie die Hochebene von einem
    gewöhnlichen Fluß mit Wasser versorgt, sondern von einem Strom, der mitten aus einer Felswand hervorbrach. Niemand wußte, wo seine Quelle verborgen war. Hoch droben im Fels klaffte ein. großes, schwarzes Loch, aus dem das Wasser hervorsprudelte. Von dort strömte es über bemooste
    Terrassen nach unten; auf jeder Stufe hatte sich ein kleiner Teich gebildet. Vom Fuß des Felsens rauschte der Strom im Zickzack weiter, bis er im Talgrund in einen großen, tiefen, stillen See mündete, an dessen anderem Ufer das Dorf lag.
    Der schönste Teil des Flusses war der, wo er aus dem
    Felsen sprudelte und sprühend und schäumend die
    Felsterrassen hinunterstürzte. Am Rand der kristallklaren Teiche auf den Terrassen hatte sich Schlamm aus dem
    Erdinneren, in dem der Fluß entsprang, abgelagert. Da die Terrassen zu klein und zu schlecht zugänglich waren, um sie zu bestellen, ließ man hier wilde Blumen, wohlduftende Gräser und Krauter und blühende Sträucher wachsen. Hier konnte man in den warmen Monaten des Jahres herrlich
    baden, spielen oder auch nur sich ausstrecken und träumen.
    Ich kletterte oft in die Höhle hinein, aus der das Wasser kam, und wahrscheinlich drang ich tiefer ein als je einer der furchtsamen und wenig neugierigen Dörfler. Stets wählte ich dazu eine Zeit, in der die Sonne am weitesten in die Höhle schien. Aber wir von Balsan Hrinkhen waren daran gewöhnt, daß die Sonne abends schnell hinter den Felsen im Westen verschwand. Selbst wenn ich den besten Zeitpunkt abpaßte und das grüne Moos am Rand der Höhle und die grünen
    Kletterpflanzen an der Decke golden in der Sonne glänzten, schien das Licht nur zwanzig Schritte in die Höhle hinein.
    Den weiteren Weg mußte ich mir in zunehmender
    Dunkelheit suchen. Ich ging soweit ich konnte, bis ich schließlich meine Fackel anzünden mußte. Ich hatte immer

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