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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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gepunkteten Würfel aus Knochen warfen, riefen sie mit ihren rauhen Stimmen Jupiter, Halja, Nerthus, Dus und Venus und andere Dämonen an. Natürlich konnten sie keine christlichen Heiligen anrufen, wenn sie Wetten abschlossen. Das
    Würfelspiel war offensichtlich älter als das Christentum, denn der höchste Wurf - drei Sechsen - wurde »Venuswurf«
    genannt.
    Neben dem Würfelspiel hatten die Bauern noch andere
    Vergnügungen, die mir eindeutig gegen die Gebote der
    Kirche zu verstoßen schienen. Im Sommer feierten sie mit ausgelassener Fröhlichkeit das heidnische Fest der Isis und Osiris. Dabei wurde viel gegessen, getrunken, getanzt und offensichtlich noch so manches mehr, denn neun Monate
    später kam immer eine größere Anzahl Kinder zur Welt.
    Obgleich es Brauch war, daß ein Neugeborenes christlich getauft, ein Brautpaar christlich verheiratet und ein Toter christlich bestattet wurde, gab es bei den Bauern zu all diesen Gelegenheiten noch zusätzliche Rituale. Über dem Kind, der Braut oder dem Grab schwang der Dorfälteste im Kreis einen primitiven Hammer, einen Stein, den man mit Lederriemen an einen dicken Stecken gebunden hatte. Aus Büchern, die in Gotisch geschrieben waren, wußte ich, daß der Hammer an den Hammer Thors erinnern sollte, einen
    Gott der alten Religion. Manchmal sah man auch an der
    Wand des Hauses, in dem ein Kind geboren war oder die
    Braut wohnen würde, oder auch in der lockeren Erde eines frisch ausgehobenen Grabes ein magisches Zeichen: ein
    Hakenkreuz mit vier gleichlangen, rechtwinklig abgeknickten Balken, die Thors Hammer darstellten, wie er im Kreis
    geschwungen wird.
    Auf meinen Ausflügen und Abenteuern lernte ich bald
    jeden Baum, jede Pflanze und jedes Tier in Balsan Hrinkhen kennen. Von den wilden Tieren, die dort lebten, mußte man nur die giftige Viper meiden und so schnell wie möglich töten. Selbst der boshafte rotköpfige Specht war tagsüber ungefährlich. Ich beobachtete ihn oft, wie er von Baum zu Baum flog, denn es heißt, daß er einen manchmal zu einem versteckten Schatz führt - doch dieses Glück hatte ich nie.
    Desgleichen vermied ich tunlichst, mich zum Ausruhen
    hinzulegen, wenn ein Specht in der Nähe war, denn man
    sagte ihm auch nach, er picke Schlafenden ein Loch in den Kopf und lege dort Larven hinein, so daß seine Opfer
    verrückt würden. Die weißen Störche, die jedes Frühjahr kamen, machten einen unerträglichen Lärm, wenn sie mit den Schnäbeln klapperten; sie hörten sich an wie
    Bauersleute, die in Holzschuhen tanzten. Doch sie waren stets willkommen, weil sie einem Haus, auf dessen Dach sie ihr Nest bauten, Glück brachten.
    Einmal begegnete ich auf einem meiner Ausflüge sogar
    einem ausgewachsenen Wolf, ein andermal einem Fuchs.
    Aber ich brauchte nicht die Flucht zu ergreifen, denn der Wolf schleppte sich matt dahin, und schon kam ein Bauer mit einem Knüppel herbeigeeilt, um ihn totzuschlagen und ihm das Fell abzuziehen. Raubtiere kamen normalerweise nur nachts nach Balsan Hrinkhen, und sie jagten nur dort, wo keine Menschen wohnten. Doch die Dorfbewohner legten rohes Fleisch aus, in dem sie zu Pulver zerriebenen
    Borretsch versteckt hatten, und der Borretsch machte die Wölfe und Füchse verwirrt und blind, so daß sie am
    hellichten Tag hilflos herumtorkelten.
    Es gab allerdings auch ein wildes Tier, welches niemand haßte oder fürchtete, und das niemand wegen seiner Haut jagte oder zu töten versuchte: einen kleinen braunen Adler, der nicht auf Bäumen, sondern auf hohen Felsbänken
    nistete. In Balsan Hrinkhen gab es noch andere Raubvögel, Habichte und Geier, doch sie waren nicht sonderlich beliebt.
    Die Habichte waren unbeliebt, weil sie gewöhnlich über das Geflügel herfielen, die Geier, weil sie so häßlich waren und außerdem Aasfresser. Der kleine Adler dagegen wurde sehr geschätzt, weil er Schlangen tötete, vor allem die einzige giftige Schlange weit und breit: die schwarzgrüne Viper.
    Entweder war der Adler geschickt genug, den Giftzähnen der Viper auszuweichen, oder er war gegen ihr Gift gefeit -
    jedenfalls beobachtete ich Vogel und Schlange oft bei einem heftigen Zweikampf auf Leben und Tod, und es war immer der stolze Greif, der als Sieger daraus hervorging. Die schwarzgrüne Viper ist nicht sehr groß oder schwer, aber ich habe auch schon gesehen, wie ein Adler siegreich gegen eine Schlange kämpfte, die so lang war wie ich groß und wahrscheinlich sechsmal so schwer wie der Greif. Da die erlegte Schlange

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