Der Greif
zweiten Mal schwieg ich, obwohl ich hätte reden müssen. Es gab dann noch ein drittes, ein viertes und ein fünftes Mal, denn Frau Genoveva hat sich seit unserer Ankunft in Lviv mindestens zweimal täglich mit einem Mann nach dem ändern, oder als Thor
verkleidet mit einer Frau nach der ändern, vergnügt.
Unmittelbar danach rannte sie jedesmal in die Thermen, um sich zu reinigen, bevor sie dann das Bett mit Euch teilte. Ich machte mir die ganze Zeit über Sorgen, daß sie sich bei diesen schmutzigen Slowenen vielleicht irgendeine üble Krankheit holen und Euch damit anstecken könnte. Aber
wie, Fräuja Thorn, hätte ich Euch das alles enthüllen
können, ohne dabei mich selbst zu bezichtigen? Oh, vai, natürlich wußte ich, daß ich nicht ewig schweigen konnte, daß früher oder später alles herauskommen würde. Und ich bin bereit, meine Strafe auf mich zu nehmen. Bevor ich sterbe, möchte ich Euch jedoch noch sagen, daß es Thor war, der Fräujin Swanilda erhängt hat. Ich glaube, er merkte sogar, daß ich ihn dabei beobachtete, und da ihn das nicht zu kümmern schien, nahm ich an, daß Ihr und er... ich
meine, daß Ihr und Genoveva...«
»Genug«, sagte ich heiser. »Sei still.«
Er klappte seinen Mund zu, und ich stand eine Zeitlang nur da und grübelte. Als ich schließlich wieder zu reden begann, war es mir gleichgültig, was Made von meinen Worten halten würde.
»Du hattest recht. Es stimmt, daß ich mich stillschweigend an jedem einzelnen Verbrechen beteiligte, das von diesem hinterhältigen Flittchen, von diesem Hurensohn begangen wurde. Thor und ich sind nichts weiter als die zwei Seiten ein und derselben Münze, und diese Münze besteht aus einem so unedlen Metall, daß sie zuerst eingeschmolzen, dann veredelt und schließlich ganz neu geprägt werden muß.
Dazu muß ich zuerst Buße tun. Ich werde gleich damit
beginnen und dich deshalb am Leben lassen, Made;
außerdem werde ich dich von nun an mit dem
angemessenen Respekt behandeln und sogar Maghib zu dir sagen. Mach dich reisefertig. Wir werden diesen Ort
verlassen. Und zwar nur zu zweit. Sattle also unsere beiden Pferde und belade das dritte mit unserem Gepäck.«
Mit gezogenem Schwert schritt ich über den Hof auf die Herberge zu. Ich warf einen kurzen Blick in den Speiseraum und sah, daß Thor nicht mehr dort war, also stürmte ich die Treppen zu unserem Zimmer hinauf. Die Zimmertür stand
weit offen. Thor war bereits da gewesen, und er hatte es offensichtlich sehr eilig gehabt, wieder zu verschwinden, denn unsere Habseligkeiten waren über das ganze Zimmer verstreut. Hastig stöberte ich die Sachen durch, die er zurückgelassen hatte, und stellte dabei fest, daß er sich wieder in Genoveva verwandelt hatte und auch nur
Genovevas Kleider und Utensilien mitgenommen hatte.
Lediglich Thors Schwert fehlte. Ich entdeckte auch, daß er mir den bronzenen Brustschutz entwendet hatte, der ihm schon immer sehr gefallen hatte.
Plötzlich stieß unten jemand einen lauten Schrei aus. Ich ging zum Fenster und sah den Wirt der Herberge sowie ein paar seiner Bediensteten und Stallburschen verstört auf dem Hof herumlaufen. Der Besitzer der Herberge rief, jemand solle einen »Lekar« holen; damit meinte er einen Arzt. Ich rannte aus der Herberge hinaus und zum Stall hinüber. Auf dem Stroh zwischen unseren beiden gesattelten Pferden
sah ich Maghib auf dem Boden liegen. Aus seiner Brust
ragte der Griff eines mir wohlbekannten Messers hervor.
Diesmal hatte Genoveva in ihrer Eile jedoch nicht sorgfältig genug gezielt. Maghib lebte noch und war bei Bewußtsein.
Obwohl die um ihn herumschwirrenden Bediensteten ihn
besorgt am Sprechen zu hindern versuchten, ließ seine
armenische Redseligkeit ihn zumindest noch ein paar Worte hervorwürgen, bei denen ihm das Blut aus dem Mund rann:
»Wollte sie aufhalten... Fräujin stach zu... nahm Pferd... ritt nach Osten... nach Osten!...«
Ich nickte, denn ich hatte sofort begriffen, warum er dieses letzte Wort so betont hatte.
»Ja«, sagte ich. »Sie hat all diese Geschichten über die bösartigen Amazonen gehört, und sie weiß, wieviel sie mit ihnen gemeinsam hat. Dahin will sie also.«
Ich konnte nicht glauben, daß eine so verwöhnte Kreatur wie Genoveva sich auf Dauer dem rauhen Leben eines in
den Wäldern lebenden Nomadenstammes verschreiben
würde. Wahrscheinlich wollte sie sich nur eine Zeitlang bei diesen Frauen verstecken, weil sie annahm, dort vor
Verfolgung sicher zu sein.
»Deine Wunde
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