Der Greif
kommen würden; daher teilte ich meinen beiden Reisegefährten mit, daß wir nicht nur eine Nacht, sondern gleich ein paar Tage in Lviv
verbringen würden.
Genoveva und ich quartierten uns also in der Herberge
ein, und als wir alles Gepäck auf unser Zimmer getragen hatten, sagte sie zu mir: »Sieh mal, Thorn, du kannst und wirst deine erhabene Rolle als männlicher Marschall und Herzog natürlich nicht aufgeben; ich dagegen kann und
werde meine Identität wechseln, wann immer es mir beliebt.
Ich werde manchmal als Thor und manchmal als Genoveva
durch die verschiedenen Läden und Schmieden des Ortes
streifen und mir die Waren zeigen lassen, die hier für Männer und für Frauen angeboten werden; vielleicht werde ich bei dieser Gelegenheit das eine oder andere für Thor oder Genoveva kaufen. Wie du weißt, bin ich ein vornehm erzogenes, verwöhntes und zartes Wesen. Ich konnte jetzt eine so lange Zeit lang nur flüchtig und nur in Flußwasser baden, daß ich auch von den hiesigen Thermen ausgiebig Gebrauch machen möchte, und da es hier getrennte
Badehäuser für Frauen und Männer gibt, werde ich beide besuchen. Auf den Straßen von Lviv und in dieser Herberge halten sich so viele Menschen auf, daß die Ähnlichkeit zwischen Thor und Genoveva niemandem auffallen wird.
Und selbst wenn jemand Verdacht schöpfen sollte, das
Gerede dieser unbedeutenden Bauern, die hier am Ende der Welt leben, könnte dich weder ernsthaft treffen noch dich in Verlegenheit bringen.«
Ich hätte über den ultimativen Charakter dieser Erklärung vielleicht zu Recht empört sein können, aber es belustigte mich eher, daß eine so unzüchtige Person, die imstande war, Pferde zu stehlen und sogar einen harmlosen, alten Bauern umzubringen, sich selbst als vornehm und zart
bezeichnen konnte; daher sagte ich nur nachsichtig: »Wie du möchtest.«
Allerdings begab ich mich trotzdem zu Made in den
Pferdestall und teilte ihm mit, daß Fraujin Genoveva »aus Staatsgründen« nun gelegentlich wieder den jungen Mann namens Thor spielen müsse. »In welcher Verkleidung sie auch immer erscheint, ich möchte, daß du dich stets
unbemerkt in ihrer Nähe aufhältst. Und wenn ich dich
danach frage, wirst du mir berichten, wo sie war und was sie dort getan hat.«
Ich verließ mich darauf, daß Made sie in meiner
Abwesenheit beobachten würde, und da er nie irgend etwas Verdächtiges erzählte, ging ich davon aus, daß meine
beiden Reisegefährten sich tugendhaft verhielten. Ich
versuchte in der Zwischenzeit, mit jedem älteren
Einheimischen ins Gespräch zu kommen, der sich in unserer Herberge oder in irgendeinem der Gasthäuser am
Marktplatz herumtrieb. Bei einem Wein oder einem Bier
fragte ich sie über die Geschichte ihrer Vorfahren aus dieser Region aus.
Aber nur wenige der ortsansässigen älteren Männer waren germanischer Herkunft. Die meisten, die ich traf, waren plattnasige Slowenen. Sie kannten nicht einmal den
Ursprung und die Geschichte ihres eigenen Volkes und
wußten nur in ihrer mürrischen und melancholischen Art zu berichten, daß die Slowenen ursprünglich einmal in
Gebieten gelebt hatten, die viel weiter im Norden oder Osten lagen. Erst viel später seien sie immer weiter nach Süden und nach Westen vorgedrungen.
In einer Taverne am Marktplatz fragte ich einen älteren Mann: »Waren es die Hunnen, die Eure Vorfahren aus ihren Heimatgebieten vertrieben haben?«
»Wer weiß?« sagte er gleichmütig. «Vielleicht waren es auch die Pozorzheni.«
»Was?« fragte ich, denn es war schon eine ganze Weile
her, daß ich dieses Wort zum letzten Mal gehört hatte.
Umständlich versuchte er, das Wort zu umschreiben, bis ich schließlich begriff, daß er diese Frauen meinte, »vor denen man sich in Acht nehmen muß«.
»Jesus«, murmelte ich. »Ich habe in kleinen, abgelegenen Siedlungen tief im Wald abergläubische Bauern von ihnen reden hören, hätte jedoch nicht erwartet, daß die zivilisierten Bewohner von Lviv sich ebenfalls vor einem Stamm wilder Frauen fürchten und an so eine lächerliche Legende
glauben.«
»Wir glauben daran«, räumte er unumwunden ein. »Und
wir hüten uns davor, sie zu verärgern, wenn sie
hierherkommen.«
»Was? Sie kommen hierher?«
»Jeden Frühling«, antwortete er. »Nur ein paar von ihnen.
Sie kommen nach Lviv geritten, um hier ein paar
lebensnotwendige Dinge zu erstehen, die es in ihrer Wildnis im Osten nicht gibt. Sie sind sehr leicht von den anderen Frauen zu unterscheiden,
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