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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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zu Gesicht bekam, ähnelte wahrhaftig einer wilden Bestie, und ihre Schwestern, denen ich bald begegnen sollte, sahen nicht weniger
    tierähnlich aus.
    Ihre zusammengekniffenen Augen, die ein ganzes Leben
    lang in die Sonne, in den Wind und in die Ferne geblickt hatten, waren stark gerötet. Durch das viele Herumklettern auf den Bäumen hatten sich die langen Zehen ihrer nackten Füße krallenartig gespreizt; ihre Hände hatten völlig
    verhornte Nägel und waren so breit und schwielig wie die eines Hufschmieds. Mit einer dieser Hände griff sie nun nach dem Gürtel, an dem mein Schwert und mein Messer hingen.
    Ihre Kinnlade, die aussah, als könne sie Knochen
    zermalmen, klappte plötzlich herunter und legte einen
    Mundvoll gelber Zahnstümpfe frei. In unfreundlichem Ton stieß sie ein paar schwer verständliche Wörter hervor, und ich begriff, daß sie mich unfreundlich gefragt hatte, wer ich sei und was ich hier suche. Ich bemühte mich nach Kräften, ihr mit Grimassen und Handbewegungen klar zu machen,
    daß das Seil meinen Brustkorb so stark zusammenschnürte, daß ich kaum Luft holen, geschweige denn antworten
    konnte.
    Außer den Waffen, die sie mir abgenommen hatte, besaß
    sie auch noch ein eigenes Messer, das in ihrem Gürtel
    steckte; außerdem hingen ein Bogen und ein Köcher über ihre Schultern. Sie musterte mich grübelnd, bis sie
    offensichtlich zu dem Schluß gelangte, daß sie nicht nur besser bewaffnet, sondern auch stärker war als ich.
    Während sie das Seil zusammenrollte und mich dabei nicht aus ihren kleinen, roten Augen ließ, erzählte ich ihr eine Geschichte, die ich mir schnell zurechtgelegt hatte.
    In ernstem Ton berichtete ich ihr, daß ich die gequälte Ehefrau eines schlechten und gewalttätigen Mannes sei, die sich nach vielen Jahren entschlossen habe, seine Flüche und Mißhandlungen, besonders aber seine abscheuliche
    Lüsternheit, nicht länger zu ertragen. Daher sei ich seiner Knechtschaft entflohen und hierhergeritten, um bei meinen im Wald lebenden Schwestern Beistand und Schutz zu
    suchen.
    Dann wartete ich gespannt darauf, ob sie jetzt vielleicht sagen würde, daß vor wenigen Tagen bereits ein anderer weiblicher Flüchtling hier eingetroffen sei. Sie warf jedoch nur einen kurzen Blick auf Velox und sagte mißtrauisch:
    »Dein grausamer Ehemann hat dich mit einem sehr feinen Pferd ausgestattet, Svistar.«
    »Ach, ne! Er? Ni allis. Ich habe es ihm gestohlen. Mein Mann ist kein armer Bauer, sondern ein Kaufmann aus Lviv mit einem Stall voller Pferde. Ich nahm mir seinen besten Kehailaner.«
    »Das Pferd gehört jetzt nicht mehr dir, sondern uns«,
    grunzte sie.
    »Ihr könnt euch sogar noch so ein Pferd verschaffen«,
    sagte ich mit einem verschlagenen Lächeln und deutete
    dabei auf ihr Wurfseil, »wenn er mir nachgeritten kommt.«
    »Das habe nicht ich zu entscheiden.«
    »Dann laß mich mit eurer Königin sprechen, oder mit eurer Oberfrau oder mit eurer Haupt-Waliskari, oder welchen Titel eure Anführerin auch immer trägt.«
    »Unsar Modar. Unsere Mutter.« Erneut verfiel sie in ein tiefes Grübeln und sagte dann plötzlich: »Sehr gut, komm.«
    Obwohl sie bereits meine Waffen und ihr aufgewickeltes Wurfseil trug, ergriff sie nun auch noch die Zügel von Velox und stapfte stromabwärts das Ufer entlang. Ich lief neben ihr her und freute mich ungemein, daß ich tatsächlich vor
    Genoveva hier eingetroffen war.
    »Sicher ist eure Anführerin nicht die leibliche Mutter jeder einzelnen Waliskari. Ging das Amt durch ein Erbfolgerecht auf sie über? Oder habt ihr sie zu eurer Stammesmutter ernannt oder gewählt? Und wie soll ich sie anreden?«
    Meine Häscherin überlegte erneut und sagte dann: »Sie
    herrscht über uns, weil sie die Älteste ist. Sie ist deshalb die Älteste, weil sie am längsten überlebt hat; und sie hat deshalb alle überlebt, weil sie die wildeste, blutrünstigste und erbarmungsloseste von uns allen ist. Sie ist fähig, jede von uns oder sogar den ganzen Stamm zu töten. Du wirst sie wie wir alle voller Ehrfurcht und Bewunderung mit Modar Lubo anreden. Mutter Liebe.«
    Beinahe hätte ich laut herausgelacht, weil zwischen
    diesem Namen und der Beschreibung seiner Trägerin ein so großer Widerspruch bestand; aber stattdessen sagte ich nur:
    »Und wie ist dein Name, Svistar?«
    Selbst diesmal mußte sie überlegen bevor sie mir
    schließlich antwortete, sie heiße Ghashang. Als ich zu ihr sagte, daß ich diesen Namen noch nie gehört hätte, erklärte sie mir,

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