Der Greif
Schiffe hatten
inzwischen so viele Jahrhunderte Zeit zu verrotten, daß natürlich nichts mehr von ihnen übrig ist.«
Die Kälte, die Trübseligkeit, die Enge und die Monotonie auf dem Schiff wurden immer unerträglicher. Ich kann nicht mehr sagen, nach wie vielen langen Tagen der Seemann
schließlich eines Nachmittags unser Gespräch unterbrach und zu Frido und mir sagte: »Die Insel dürfte gerade in Sicht kommen. Wollt Ihr mit hochkommen und es Euch
ansehen?«
In Windeseile kletterte Frido zum Oberdeck hinauf, und ich folgte ihm beinahe ebenso gespannt. Zum ersten Mal seit unserem Aufbruch aus Pomore sollten wir wieder Land
sehen, und es war tatsächlich Gotland, das da zu unserer Linken am nordwestlichen Horizont aus dem nebligen
grauen Meer auftauchte. Ich wünschte, ich könnte berichten, daß es aus der Ferne so zauberhaft schön und einladend aussah wie die legendären, glücklichen Inseln von Avalon.
Es erinnerte jedoch eher an eine andere Insel, die man aus den Sagen kennt: an Ultima Thule, die Insel am Ende der Welt. Gotland war lediglich ein weiterer trostloser Anblick auf diesem trostlosen Sarmatischen Ozean; wieder so ein Ort, den die Goten mit gutem Grund verlassen hatten.
Es entging unserem Seemann sicher nicht, daß wir sehr
enttäuscht waren, am Ende dieser langen und
beschwerlichen Reise so wenig vorzufinden; vielleicht
verspürte er sogar eine gewisse Genugtuung, weil er uns genau das prophezeit hatte. Aber er verzichtete höflich auf den Satz: »Das habe ich Euch doch gleich gesagt«, und
bemerkte stattdessen: »Sicher werdet Ihr die Heimatinsel Eurer Vorfahren auch betreten wollen. Ihr einziger
ausgebauter Hafen liegt an der Westküste. Das Meer ist dort jedoch zu dieser Jahreszeit so fest zugefroren, daß man nicht in den Hafen fahren kann; ich werde Euch daher an der steilen Ostküste an Land setzen. Dort kenne ich eine kleine, halbmondförmige Bucht, in der das Wasser tief genug ist, um anzulegen. Außerdem wohnt auf dieser Seite der Insel auch jene verwirrte alte Gotenfrau, von der ich Euch bereits erzählt habe. Vielleicht wollt Ihr ein paar Worte mit ihr wechseln. Wer weiß, ob sie sich nicht vielleicht sogar als Eure Ururgroßmutter entpuppt?«
Als das Schiff schließlich in dieser Bucht vertäut war, wurde es bereits dunkel, daher gingen wir an diesem Abend nicht mehr an Land. Am nächsten Morgen wurden Frido und ich von einem dünnen, aber durchdringenden Schrei
geweckt. Da wir vermuteten, eine der Schiffswachen habe Alarm gegeben, eilten wir sofort auf Deck, stellten jedoch bald darauf fest, daß die Schreie von der Insel kamen. Auf deren Kiesstrand vollführte eine kleine, schwer zu
beschreibende Gestalt eine Art Tanz; wild gestikulierend rief sie uns völlig unverständliche Sätze zu. Also gingen wir hinüber zu unserem Seemann, der gerade ein paar Männern befohlen hatte, ein kleines Lederboot ins Wasser zu lassen.
Er war jedoch in keinster Weise beunruhigt und erklärte nur ganz beiläufig: »Niemand befindet sich hier in Gefahr oder in Seenot. Es ist nur die alte Hildr. Jedesmal, wenn ein Schiff hier anlegt, gerät sie in helle Aufregung, denn dann
bekommt sie immer ein paar Vorräte geschenkt. Das sind, glaube ich, die einzigen Lebensmittel, die sie überhaupt erhält, und ich weiß wirklich nicht, wovon sie sich in der Zwischenzeit ernährt.«
Als wir das Ufer betraten, tanzte die Frau uns entgegen.
Sie war in graue Lumpen und in weiche, dünne Lederfetzen gekleidet. Ihr glattes, weißes Haar flatterte, und ihre spitzen alten Knie und Ellbogen zuckten, als sie aufgeregt vor uns herumhüpfte, auf uns einplapperte und uns an den Ärmeln zog, während wir das Boot auf den Kiesstrand zogen. Sie redete so hastig, daß ich zwar gerade noch ausmachen
konnte, daß sie einen Dialekt der alten Sprache sprach, jedoch kaum verstand, was sie uns sagen wollte. Sie
benutzte viele Wörter, die ich aus alten gotischen
Manuskripten kannte; allerdings hatte ich noch nie jemanden diese Wörter auch aussprechen hören. Die jungen Ohren
von Prinz Frido waren offensichtlich besser in der Lage, ihrem verwirrend schnellen Redeschwall zu folgen, denn er übersetzte mir zusammenfassend ihre Worte: »Sie dankt
uns für alles, was wir ihr gebracht haben.«
Als der Seemann ihr eine dicke Scheibe geräuchertes
Schweinefleisch und einen Schlauch Bier überreichte,
preßte sie ihre Geschenke freudestrahlend an sich und
machte sich dann hastig auf den Weg zu ihrer kleinen
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