Der Greif
sie innehielt, um einen kräftigen Schluck aus ihrem Bierschlauch zu nehmen, sagte ich: »Ich verstehe. Es
handelte sich um die germanischen Völker. Die der
südlicheren Regionen nannten sich dann Alemannen,
Franken, Burgunder, Vandalen -«
Sie fiel mir ins Wort und deutete mit der Öffnung ihres Bierschlauchs auf mich: »Beachtet, daß von all diesen
Völkern nur wir Goten den Namen unserer Vorfahren
beibehalten haben. Er hat sich im Laufe der Zeit kaum
verändert. Zuerst hießen wir Gautar, später dann Gutans, und jetzt nennen wir uns Goten. Der Name blieb also
bestehen.«
Nun, immerhin hatte ich jetzt doch noch etwas über die Frühgeschichte der Goten in Erfahrung gebracht. Man mag mich ebenfalls für leicht verrückt halten, weil ich die Aussagen einer verrückten alten Frau in meine historischen Aufzeichnungen aufnahm, aber was Hildr zu diesem Thema gesagt hatte, hatte mir durchaus glaubwürdig geklungen; außerdem sah sie wirklich so uralt aus, als ob sie die Zeit, die sie als den »Anfang aller Dinge« bezeichnete, noch miterlebt hätte.
13
Als wir wieder an Bord gingen, sagte unser Seemann
freundlich: »Da wir nun schon einmal hier sind und dazu noch von so weit hergekommen sind, brauchen wir uns mit der Rückkehr jetzt wirklich nicht zu beeilen. Ihr könnt also so viele Ausflüge zur Insel machen, wie Ihr wollt.«
Und Frido sagte erwartungsvoll: »Saio Thorn, wir könnten die Klippen hinaufsteigen und das Innere der Insel
erforschen.«
»Ne«, sagte ich. »Habt Dank für Euer Angebot, Seemann, aber Ihr könnt die Anker lichten, sobald das Schiff reisefertig ist. Bringt uns wieder nach Pomore zurück.« Daraufhin ging er zu seinen Bootsleuten hinüber und erteilte ihnen alle notwendigen Befehle. Frido erklärte ich: »Meine Mission ist jetzt beendet. Die Geschichte der Goten läßt sich sicherlich nicht weiter zurückverfolgen als bis zu der Zeit, über die uns die verrückte alte Hildr erzählt hat. Ich brauche Gotland, Skandza und den eisigen, hohen Norden also nicht weiter zu erforschen. Ich weiß deinen Unternehmungsgeist durchaus zu würdigen, mein junger Frido, aber selbst in weniger unwirtlichen Gefilden ist es schon beschwerlich genug, sich während des Winters zu Fuß auf die Reise zu machen. Ich bin für deine Gesundheit verantwortlich und möchte
vermeiden, daß mich deine Mutter nach unserer Rückkehr in Streifen peitschen läßt.«
Eine Zeitlang schwiegen wir beide, und in genau diesem Augenblick reifte in mir dieser Plan, der weder mit meinem Treueschwur gegenüber dem gotischen Volk noch mit den
Gesetzen der Gastfreundschaft vereinbar war. Königin Giso war immerhin eine Gotin und dadurch zumindest entfernt mit mir verwandt. Ich hatte also vor, eine Angehörige meines eigenen Stammes zu hintergehen. Auch wenn sie mich nicht gerade mit offenen Armen empfangen hatte, so war ich doch eine ganze Zeitlang ihr Gast gewesen, und ich würde ihr diese Gastfreundschaft bald mit Verrat vergelten. Ich
schwieg weiterhin und wartete zunächst einmal ab, ob Frido nicht vielleicht sogar von sich aus denselben Gedanken äußern würde. Dann würde es nämlich so aussehen, als
wäre nicht ich, sondern er auf diese Idee gekommen.
Schließlich sagte er: »Was werdet Ihr nun tun, Saio
Thorn?«
»Ich werde mich auf den Weg nach Süden machen«,
sagte ich in bewußt ungezwungenem Ton. »Ich werde mich König Theoderich anschließen und mit ihm und deinem
königlichen Vater kämpfen, wenn der Krieg beginnt.« Diesen letzten Satz hatte ich absichtlich zweideutig formuliert.
»Wie wollt Ihr denn jetzt in den Süden gelangen? Das Eis auf der Weichsel wird in den nächsten zwei Monaten noch nicht schmelzen.«
»Ach, ich werde über Land reiten. Wenn man wie ich ein gutes Pferd besitzt, dann ist eine solche Reise auch im Winter nicht allzu beschwerlich.«
Erneut ließ ich ihm Zeit zu überlegen und wartete
gespannt darauf, was er nun wohl sagen würde.
»Auch ich habe ein gutes Pferd«, sagte er hoffnungsvoll.
Ich ließ ihn abermals eine Weile warten und sagte dann in nicht allzu strengem Ton: »Du würdest den Befehl deiner Mutter mißachten?«
»Ich glaube... was Ihr gesagt habt... daß der Krieg nicht Sache der Mütter ist. Ich werde ihr das ins Gesicht sagen und dann -«
»Langsam, Frido. Ich hielte es für besser, wenn du jeder Konfrontation aus dem Weg gingst.« Mein heimlicher
Ratschlag entsprang rein praktischen Erwägungen, denn ich hatte ja schon miterlebt, wie der Junge in
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