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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Hütte.
    Während sie sich entfernte, gab sie uns jedoch mit
    energischen Handzeichen zu verstehen, daß wir ihr folgen sollten. »Die verrückte Alte möchte uns zum Dank etwas zeigen«, sagte der Seemann grinsend. »Ich habe es schon oft gesehen, aber kommt ruhig mit.«
    Als wir in ihrer winzigen, an den Felsen gebauten Hütte eintrafen, biß sie heißhungrig in ihre Scheibe
    Schweinefleisch und sagte dann mit vollem Mund, aber mit ruhigerer Stimme: »Der Seemann hat Euch sicherlich
    erzählt, daß ich verrückt bin. Er glaubt das weil ich mich an viele Dinge erinnern kann, die sich schon vor sehr, sehr langer Zeit zugetragen haben. Kein anderes Volk hat je von diesen Dingen gehört, daher glaubt mir niemand. Aber bin ich deswegen vielleicht verrückt?«
    »Was sind das für Dinge, an die Ihr Euch erinnert, gute Hildr?« fragte ich freundlich.
    Mit beiden Backen kauend winkte sie mit ihrer fettigen, alten Hand ab, als wolle sie mir damit sagen, daß man so viele Dinge unmöglich in so kurzer Zeit aufzählen könne.
    Dann schluckte sie und sagte: »Ach, da sind unter
    anderem... die großen Seeungeheuer, die es früher einmal gab... der Riesenkrake, die Kreatur, die wir Grindl nannten, der Drache Fafner...«
    »Mythische Seeungeheuer«, sagte der Seemann hinter
    vorgehaltener Hand zu mir. »Eine Erfindung abergläubischer Seeleute.«
    »Mythen? Ni allis!« sagte die alte Hildr aufgebracht.
    »Sigurd hat früher einige von ihnen mit dem Speer erlegt oder im Netz gefangen und an Land gezogen.« Mit dem
    Stolz einer großen Dame zupfte sie die dünnen Lederfetzen zurecht, die sie am Leibe trug. »Sigurd hat all diese
    Ungeheuer getötet, damit ich mich in feine Häute kleiden kann.« Als ich mir die Lederfetzen genauer ansah, konnte ich erkennen, daß es sich um die Haut eines kleinen Hais handelte.
    »Gute Hildr, Ihr seid doch eine Gotin«, sagte ich. »Könnt Ihr Euch noch an die anderen Goten erinnern, die früher einmal auf Gotland wohnten?«
    »Schwächlinge! Feiglinge! Weichlinge! Sie waren ganz
    und gar nicht wie mein Sigurd!« schimpfte sie, und kleine Speisereste flogen ihr dabei aus dem Mund. »Unser Gotland war ihnen zu rauh, daher flohen sie. Einige fuhren mit Beowa nach Westen, die meisten brachen jedoch mit Berig nach Süden auf.«
    Ich hatte bereits zurückgerechnet, daß König Berig um die Zeit Christi gelebt haben mußte, und wenn die alte,
    lederhäutige Hildr vorgab, sich an ihn zu erinnern, dann war sie entweder wirklich verrückt oder tatsächlich sehr alt. Ich ging auf ihre Grillen ein und fragte: »Warum seid Ihr nicht mit ihnen gegangen?«
    »Väi« Sie hatte nur noch ein einziges, ziemlich trübes Auge, und mit diesem schaute sie mich jetzt überrascht an.
    »Ich konnte doch meinen Sigurd nicht einfach hier
    zurücklassen!«
    »Wollt Ihr damit sagen, daß Sigurd und König Berig zur selben Zeit lebten?«
    Sie warf ihren Kopf so unwirsch zurück, als ob ich sie soeben beleidigt hätte, und sagte mit erhobener Stimme:
    »Aber Sigurd lebt doch noch!«
    Der Seemann grinste erneut und schüttelte verneinend
    den Kopf, daher wechselte ich das Thema. »Gute Hildr, gibt es außer Sigurd und Berig noch andere Namen aus jener
    Zeit, an die Ihr Euch noch erinnern könnt?«
    »Ach, ja.« Sie kaute weiter und musterte mich eine
    Zeitlang prüfend mit ihrem einen Auge. Ohne daß ich sie auf die Frühgeschichte der Goten angesprochen hätte, sagte sie dann plötzlich zu meiner völligen Überraschung: »Wenn Ihr etwas über den Anfang aller Dinge wissen wollt, dann müßt Ihr noch viel, viel weiter zurückgehen... in eine Zeit, die vor der Geschichtsschreibung und vor Sigurd, Beowa und Berig liegt... Ihr müßt Euch zum Anfang der Zeit begeben, als es weder Goten noch irgendwelche anderen Völker gab.
    Damals lebten auf der Welt noch keine Menschen. Es war das Zeitalter der Äsen, der Familie der Alten Götter, zu der unter anderem Wodan, Thor und Tiwaz gehörten.«
    Als sie eine Pause machte, um ein weiteres Stück von
    ihrer Fleischscheibe abzubeißen, sagte ich hoffnungsvoll:
    »Ja, diese Namen kenne ich.«
    Sie nickte und schluckte. »Damals, in jener Finsternis aller Zeit, ernannten die Äsen einen ihrer niedrigeren Verwandten zum Vater der ersten Menschen. Sein Name war Gaut. Er
    erfüllte seinen Auftrag und zeugte die Gautar, die Vielvölker.
    Im Verlaufe der Jahrhunderte nahmen diese Menschen
    verschiedene Namen an. Hier im Norden nannten sie sich Schweden, Rugier, Sachsen, Juten und Dänen...«
    Als

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