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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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Frauenkleider zulegen, so daß ich mich gegebenenfalls auch als Frau kleiden konnte. Und es gab noch etwas, das ich dringend brauchte: ein Messer. Da die Erfahrung mich gelehrt hatte, daß ein Messer wichtiger war als Kleider, suchte ich gleich an meinem ersten Tag in Vesontio den Laden eines Messerschmieds auf. Ich ging
    nicht in das Geschäft hinein, sondern wartete, bis der Messerschmied um die Mittagszeit von seiner Frau abgelöst wurde, die offensichtlich im Laden aufpassen mußte,
    während er selbst zu Mittag aß. Nun ging ich hinein und besah mir die zum Verkauf ausgestellten Messer. Die besten Klingen der Welt werden von Goten hergestellt, doch sind sie verständlicherweise sehr teuer. Ich prüfte mit dem Daumen andere Messer zweiter Qualität, wählte eines
    davon aus und feilschte mit der Ladeninhaberin um den
    Preis. Als wir uns geeinigt hatten, reichte ich ihr meinen Silbersolidus. Sie schnappte erstaunt nach Luft und sah mich scharf an. Glücklicherweise saf; der Adler auf meiner Schulter. Er erwiderte ihren Blick weitaus kälter, als ich es hätte tun können. Die Frau gab mir Messer und Wechselgeld und ließ mich gehen.
    Genau deshalb hatte ich bis Mittag gewartet. Einen Mann hätte der Adler vielleicht nicht eingeschüchtert, und vielleicht hätte der Schmied sogar die Wachen gerufen, die draußen ihre Runde machten. Dann wäre ich verhört worden, und
    man hätte mein Geld konfisziert und am Ende mich selbst verhaftet. Ein Silbersolidus ist zwar nur ein Sechzehntel eines Goldsolidus wert, doch war das in der Hand eines Bauernjungen schon ungewöhnlich viel Geld. Man hätte
    mich verdächtigen können, ein entlaufener Sklave zu sein und dazu ein Dieb.
    Da in Vesontio tagsüber und nachts Wachen
    patrouillierten, wagte ich es nicht, etwas zum Essen zu stehlen oder mich für die Nacht irgendwo zu verkriechen.
    Das Messer hatte mich zwar die Hälfte meines Solidus
    gekostet, doch klingelte noch eine beruhigende Zahl von Denaren und Sesterzen in meiner Tasche. Außerdem lebten die vielen Herbergen der Stadt von Sommergästen; im
    Winter waren sie fast leer, so daß die Preise für Kost und Logis entsprechend niedrig waren. Ich fand eine billige Unterkunft eine kleine Hütte mit nur einem Zimmer. Die Hütte gehörte einer alten Witwe, die so blind war, daß ihr weder mein ungepflegtes Äußeres noch mein
    ungewöhnlicher Begleiter, der Adler, auffielen. Ich blieb zwei oder drei Tage lang dort, schlief auf einer Strohschütte, die nicht weicher oder wärmer war als der Sand am Flußufer, auf dem ich die Nächte davor geschlafen hatte, und ernährte mich von der einfachen Haferschleimsuppe, die alles war, was die alte Frau mit ihren fast blinden Augen noch kochen konnte. Tagsüber streifte ich durch die weniger vornehmen Viertel der Stadt und suchte nach Kleidern, die ich mir leisten konnte.
    Es gab in diesen Vierteln viele schäbige kleine Läden, die älteren Juden gehörten und in denen die gebrauchten
    Kleider von Angehörigen der besseren Gesellschaft verkauft wurden. In einem dieser Läden erstand ich nach langem
    Feilschen mit dem alten, unterwürfig und händeringend um mich herumstreichenden Inhaber ein langes Kleid, das zwar sehr abgenutzt und zerschlissen war, aber noch getragen werden konnte. Während der alte Jude das Kleid zu einem Bündel schnürte und leise vor sich hin murmelte, ich hätte ihn bei diesem Geschäft um den letzten Sesterz Gewinn
    betrogen, stahl ich schnell und unbemerkt ein Kopftuch und stopfte es unter meinen Rock. In einem anderen Laden
    kaufte ich eine abgetragene Tunika aus Leder und Hosen aus grober ligurischer Wolle mit etwas schwerer gewebten Füßlingen. Auch hier entwendete ich etwas, als der
    Ladenbesitzer einen Augenblick nicht hersah: eine
    Lederkappe, wie sie die Männer trugen. Heute schäme ich mich, wenn ich daran denke, daß ich kleine Ladenbesitzer bestahl, die fast so arm waren wie ich selber. Aber damals war ich jung und unerfahren und glaubte außerdem wie alle anderen, daß es kein Verbrechen war, einen Juden zu
    bestehlen.
    Von dem wenigen Geld, das mir nach diesen
    Anschaffungen noch blieb, kaufte ich einen Ring
    geräucherter Wurst, der lange halten würde. An meinem
    letzten Abend in Vesontio probierte ich aus, wie ich als Mann und als Frau auf andere Menschen wirkte. Zuerst zog ich in meiner Herberge Ledertunika und Hosen an; den Rock
    steckte ich in die Hosen. Dann zog ich meine Stiefel über die Füßlinge und setzte die Lederkappe auf. Den Adler

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