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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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»Da du nun einmal hier bist, warum kommst du nicht ans Feuer und wärmst dich?«
    Es war die rauhe Stimme eines Mannes, und der Mann
    sprach Gotisch, mit einem Akzent, der mir unbekannt war.
    Immerhin hatte ich ihn verstanden.
    Aber wie hatte er mich gehört? Ich hatte mich so bemüht, kein Geräusch zu verursachen. War dies vielleicht ein
    Waldgeist mit Augen im Hinterkopf? Am liebsten wäre ich davongerannt, doch das fröhlich flackernde Feuer sah so einladend aus. Ich ging auf seine andere Seite, setzte mich und fragte verwirrt: »Wie habt Ihr mich bemerkt?«
    »Herr im Himmel!« grunzte der Mann verächtlich, und es war das erste Mal, daß ich jemanden so fluchen hörte. »Du dummer Junge, seit mindestens einer Woche schon
    stolperst du hinter mir her!«
    Wenn er ein Skohl mit übernatürlichen Fähigkeiten war, sah er zumindest äußerlich wie ein ganz normaler
    Sterblicher mit langen Haaren und zottigem Bart aus. Er war alt, aber nicht schwächlich, sondern eher robust, und er hatte ein wettergegerbtes Gesicht und klare Augen von
    einem durchdringenden Blau. Seine Zähne waren blendend weiß, als würde er damit Leder kauen.
    »Alle möglichen Waldtiere hast du aufgescheucht mit dem Lärm, den du machst«, brummte er. »Sie sind an mir
    vorbeigerannt. Jesus, bist du ein erbärmlicher Jäger! Als dann zu fürchten war, daß du mir in absehbarer Zeit alle Tiere verscheuchen und vielleicht sogar die Bären zu früh aus dem Winterschlaf wecken würdest, habe ich mich
    entschlossen, hier auf dich zu warten. Wie heißt du,
    Dummkopf?«
    Noch verwirrter als zuvor sagte ich: »Thorn.«
    Er lachte freudlos. »Welch passender Name. Ein Dorn im Auge eines Jägers, das bist du wahrhaftig. Du störst mich bei der Jagd, die mein Lebensunterhalt ist. Was tust du hier, Thorn? Du jagst nur, wenn du Hunger hast, und du bist ein schlechter Jäger. Bei den Hörnern des heiligen Joseph, mich wundert, daß du nicht schon längst verhungert bist. Und von Tieren verstehst du nichts - wie hast du es überhaupt
    geschafft, den Adler zu fangen und zu zähmen? Teilt ihr euch seine Beute? Bist du hungrig, Junge?«
    »Und durstig«, murmelte ich.
    »Hinter den Büschen dort ist ein Bach, wenn du kräftig genug bist, ein Loch in das Eis zu schlagen.«
    Er redete in einem fort, während ich zum Bach ging und gierig trank. Ich war beeindruckt von der Redseligkeit des Alten und der Gottlosigkeit seiner Flüche, wobei ich ihm zugute halten muß, daß er zumindest in der Wahl der Götter und anderer ehrwürdiger Persönlichkeiten unparteiisch war.
    Als ich zum Feuer zurückkehrte, warf er mir ein blutiges Stück Fleisch zu. »Elchleber, eine Delikatesse. Hol dir einen Stock und brate sie über dem Feuer.«
    »Thags izwis, Fräuja«, murmelte ich, »vielen Dank, Herr.«
    »Tja, Junge, du sprichst nicht viel, wie? Auch daran
    erkennt man den Neuling. Wer so lange wie ich im Wald
    gelebt und immer nur Selbstgespräche geführt hat, redet schließlich in einem fort, sobald er Zuhörer hat, und wenn es nur ein Geier ist.«
    Genau das tat er, während ich aß. Ich war so hungrig, daß ich das Fleisch nur kurz über das Feuer hielt und dann gierig wie ein wildes Tier mit den Zähnen zerriß. Was dabei zu Boden fiel, fütterte ich dem Juikabloth auf meiner Schulter.
    »Der Schnee fällt immer dichter«, sagte der Alte. »Das ist gut. Wenn es so weiterschneit, gibt das eine schöne warme Decke für heute nacht. Du hast mir noch nicht gesagt, was dich in die Hrau Albos treibt, Junge. Wahrscheinlich bist du ein entlaufener Sklave - aber warum hast du dich in diese unwirtlichen Wälder geflüchtet? Du bist hier so fehl am Platz wie ein Krokodil aus den heißen Ländern. Warum hast du dich nicht in einer Stadt versteckt, wo man dich unter den vielen Menschen nicht findet?«
    »Ich bin kein Sklave, Fräuja«, sagte ich mit vollem Mund.
    Blut rann mir übers Kinn. »Ich war nie ein Sklave. Ich war Klosterschüler in einer Abtei. Aber ich wurde... ich kam zu dem Entschluß, daß es mir nicht bestimmt ist, Tonsur und Kutte zu tragen.«
    Die kräftige Mahlzeit hatte mich gestärkt, und lebhafter fügte ich hinzu: »Ich fliehe vor niemandem, Fräuja. Ich will nach Osten zu den Goten, zu meinem Volk.«
    »Ach tatsächlich? Zu den Ostgoten? Wer sagt, daß du
    wirklich nach Osten gegangen bist, Junge?«
    »Bin ich das etwa nicht?« fragte ich bestürzt. »Als ich Vesontio verließ, habe ich mich nach Osten gewandt. Doch hier in den Bergen verdecken ständig dicke

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