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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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brachte nie ein Kind zur Welt, ich menstruierte nie, und soweit ich weiß, zeugte ich keine Kinder. Ich hatte also das Glück, von den Ärgernissen, Hindernissen und Pflichten von Haushalt und Familie, mit denen die meisten Menschen sich herumschlagen müssen, frei zu sein.
    Selbst als ich erwachsen war, verriet mein Äußeres nicht, ob ich Mann oder Frau war, und ich wurde genausooft als gutaussehender Junge oder Mann gelobt wie als hübsches Mädchen oder schöne Frau. Ich habe viele Frauen
    kennengelernt, die mir an Größe in nichts nachstanden, und viele Männer, die kleiner waren als ich. Mein gewelltes Haar trug ich mittellang, so daß ich gleichzeitig als Mann und als Frau gelten konnte. Meine Stimme veränderte sich nicht wie bei den meisten heranwachsenden Männern; man konnte
    sie für die sanfte Stimme eines Mannes oder die aufreizend heisere Stimme einer Frau halten. Wenn ich allein
    unterwegs war, reiste ich als Mann. Wegen meiner grauen Augen und hellen Haare hielten mich die Südeuropäer für einen aus dem Norden, während mich Nordeuropäer wegen
    meiner schlanken Gestalt und meines spärlichen
    Bartwuchses für einen Römer hielten.
    Nein, mir wuchsen keine Haare im Gesicht oder auf der
    Brust, und auch unter meinen Armen sproß nur ein leichter Flaum. Außerdem hatte ich sehr kleine Brüste, die kaum von einer männlichen Brust zu unterscheiden waren. Was ich hatte, konnte ich mit Hilfe eines Brustbandes entweder flach schnüren oder höher binden, so daß ein richtiger Busen entstand. Die zartrosa Höfe der Brustwarzen waren etwas größer als die eines Mannes, und die Brustwarzen richteten sich auf, wenn ich erregt war. Doch es kam nie vor, daß eine Frau sie als unmännlich empfand. Deidamia war und blieb jedenfalls die einzige, die mich ohne jedes Kleidungsstück für eine Frau hielt.
    Mein Schamhaar war geringfügig dunkler als mein
    Haupthaar. Es bildete kein so scharf umrissenes Dreieck wie bei einer Frau, war aber auch nicht so undeutlich abgesetzt wie bei einem Mann - doch dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern ist vermutlich nur einigen Ärzten bekannt.
    Mein Nabel befand sich nicht genau auf der Gürtellinie wie der eines Mannes, aber auch nicht so weit darunter wie der einer Frau. Doch auch dieser Unterschied wird nur von den wenigsten bemerkt. Mein Penis war von normaler Größe und von Schamhaaren umgeben, so daß es nicht auffiel, daß ich keine Hoden besaß, obwohl ich natürlich achtgeben mußte, welche Körperhaltung ich einnahm, wenn ich nackt war.
    Doch ich konnte das Organ mit einem Band so an den
    Bauch binden, daß man es nicht sah, und dieses Behelfs bediente ich mich, wenn ich eine Frau war.
    Es mag nun so klingen, als habe ich mich früh mit meiner abnormen Natur abgefunden und mich ihr angepaßt, aber
    das war nicht so. Wie ich noch berichten werde, verlangte dieser Prozeß viel Zeit und zahlreiche Erfahrungen
    gesellschaftlicher und sexueller Natur, mit Männern wie mit Frauen. Einige dieser Begegnungen waren Experimente,
    andere entsprangen der Zuneigung, wieder andere erwiesen sich als unangenehm oder ausgesprochen schmerzhaft. Ich brauchte mehrere Jahre, bis ich mit mir selbst zurecht kam.
    Denn Blütenkelche sind - abgesehen davon, daß sie
    schön aussehen und gut riechen - nichts anderes als die Geschlechtsorgane einer Pflanze. Daher hatte ich in jener Zeit besonders gegen Lilien eine große Abneigung: Ihr
    fleischiger Blütenkolben, der aufrecht aus der Vulva der Blütenscheide hervorbricht, schien mir eine Verspottung meiner eigenen Geschlechtsteile.
    Ich konnte mich mit meiner Doppelnatur erst abfinden, als ich viele heidnische Geschichten gelesen und alte
    heidnische Lieder gehört hatte, die aus einer christlichen Abtei natürlich verbannt waren. Dabei stellte ich fest, daß ich bei weitem nicht der erste meiner Art war. Wie Plinius in seiner Naturgeschichte schreibt, bringt die Natur fast alles hervor - und wenn die heidnischen Geschichten wahr waren, hatte sie schon vor mir allerlei Kuriositäten hervorgebracht, unter anderem Wesen wie mich selbst. Das tröstete mich, und ich fühlte mich weniger allein.
    2
    In den Jahren vor meiner Verbannung hatte ich das Tal
    nur zum Besuch der nächstgelegenen Dörfer und Höfe der Hochebene verlassen, und dies geschah nicht oft, und nie war ich allein. Ich half den Mönchen damals, den Karren der Abtei mit Nahrungsmitteln oder anderen Vorräten zu
    beladen, die von dort abgeholt werden mußten. Als sich die

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