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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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ließ ich in der Herberge. Das Schaffell über die Schulter geworfen, begab ich mich mit männlich ausgreifenden Schritten ins Hafengebiet zu den Prostituierten. Die geschminkten
    Frauen, die in dunklen Eingängen standen oder auf
    Fenstersimsen saßen, öffneten ihre schweren Pelze und
    ließen mich ihre Körper sehen, während sie gurrten wie Tauben, mir zupfiffen und mich ansprachen. Manche
    sprangen fast auf die Straße, um mich auf ihr Lager zu ziehen. Ich bedachte sie alle mit einem kühlen,
    unverbindlichen, männlichen Lächeln und ging weiter. Ich war zufrieden, denn schließlich hatten sie in mir einen möglichen Kunden gesehen.
    Ich kehrte in meine Herberge zurück, schlüpfte nun in das Kleid, knotete das Kopftuch fest und zog statt der Stiefel meine Sandalen an. Das Schaffell warf ich wieder über die Schulter. Dann kehrte ich zum Hafen zurück und schlenderte so unmännlich, wie ich konnte, die Straße entlang. Wo die Prostituierten mich zuvor werbend angesprochen hatten, sahen sie mich nun kalt an und ließen ihre Pelze
    geschlossen. Einige zischten mich wütend an, andere
    schimpften: »Hau ab, du Hure, und suche dir ein anderes Revier!«
    Da ich weder Schmuck trug noch geschminkt war, hielten sie mich für eine Frau niederer Herkunft, für eine Neue und eine mögliche Konkurrenz. Ich schenkte ihnen ein warmes, huldvolles Lächeln und setzte meinen Spaziergang fort, geschmeichelt, daß ich als Frau offensichtlich so gut aussah, daß die Prostituierten neidisch waren.
    Ich wußte jetzt, daß ich mich als Mann und als Frau
    kleiden konnte und andere damit zu überzeugen vermochte.
    Ich mochte allein sein, ohne Freunde, arm, hilflos und mit einer Ungewissen Zukunft - aber ich konnte wie ein wildes Tier die Farben, Muster und Strukturen meiner Umgebung annehmen und mich anpassen, so daß man mich für einen
    ganz normalen Menschen hielt.
    Vorerst jedoch brauchte ich mich weder als Mann noch als Frau zu kleiden, denn ich hatte.vor, wieder über Land zu reisen. Ich trug zwar Hosen wie ein Mann, aber nur, weil sie warm waren. Ohne Kopfbedeckung, in Rock, Schaffell und Stiefeln, sah ich wieder aus wie ein Bauernkind
    unbestimmten Geschlechts. Ich hängte das neue Messer an meinen Gürtel, rollte die Wurst und die anderen Einkäufe zu einem Bündel, setzte mir den Adler auf die Schulter und verließ Vesontio.
    3
    Diesmal ging ich nach Osten. Ich verließ die geschäftige Straße und den vielbefahrenen Doubs, kam an den
    Salzsiedereien und Holzlagern der Stadt vorbei und befand mich bald in der unberührten Wildnis fernab jeglicher
    Zivilisation.
    Ich verließ Burgund und kam ins Land der Alemannen. Ich wußte schon, daß es dort weder Hühnerställe noch
    Heuschober gab, in denen ich Eier oder einen Unterschlupf für die Nacht finden würde. Die Alemannen sind Nomaden; sie haben keine Häuser, Höfe oder Weinberge, sondern
    verbringen, wie ein Sprichwort sagt, das ganze Leben auf dem Rücken ihrer Pferde. Sie haben auch nicht wie die
    meisten Völker nur einen König oder zwei Könige wie die Burgunder, da jedes Oberhaupt eines Stammes, er mag
    noch so klein sein, sich »König« nennt. Die Alemannen
    ziehen durch die Wälder, wie ich es von nun an auch tun würde, ernähren sich vom Wald und überleben, weil sie sich in der Wildnis zu helfen wissen.
    Bisher war es ein milder Winter gewesen, doch nun
    gelangte ich in die Nähe jener ungeheuer hohen Gipfel, die im Lateinischen »Alpes« genannt werden. Das Vorgebirge, das ich durchquerte, wird im Gotischen wegen seiner
    strengen Winter »Hrau Albos« genannt - die rauhen Alpen.
    Streng war der Winter in jenem Jahr wirklich, und je weiter ich nach Osten vorstieß, desto kälter wurde es. Im Wald war es sogar mittags dunkel und kalt. Es schneite
    ununterbrochen, und ich kämpfte endlos gegen einen
    eisigen Wind an, der mir ins Gesicht schnitt.
    Wie man im Freien überlebte, wußte ich nicht. Ich wußte nur, was ich auf meinen Streifzügen durch Balsan Hrinkhen gelernt hatte. So paßte ich gut auf, daß ich Feuerstein und Zunder unterwegs nicht verlor. Ebenso gewissenhaft hütete ich das Fläschchen mit dem Milchtropfen der Jungfrau
    Maria. Reisig, mit dem ich Feuer machen konnte, fand ich genügend, und ich war auch so vorsichtig, das Feuer nicht unter einem Baum oder Felsen zu entfachen, der dick mit Schnee beladen war, denn der Schnee wäre in der Hitze
    heruntergefallen und hätte die Flammen erstickt.
    Im Umgang mit der Schleuder war ich inzwischen

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