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DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

Titel: DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Neumeier
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schillernde Licht, das zum offenen Fenster hereinströmte, war angenehm, nicht jedoch die raue Kälte. Jos öffnete den Mund, wollte schon sagen: Schließt die Fensterläden, Mann; seid Ihr verrückt? Als er dann jedoch den Farabiander Fürsten weiter betrachtete, schwieg er. Seine Hemmung lag weniger an der Furcht, Fürst Bertaud könnte gekränkt reagieren, als an der Gewissheit, dass der Fürst ihn gar nicht gehört hätte. Jos dachte, dass der andere so tief in Gedanken und Befürchtungen versunken war, dass er nicht mal das Krachen und Tosen einer Lawine vernommen hätte, die aus den frostigen Höhen herabstürzte. Zum ersten Mal kam Jos in den Sinn, dass die so beharrlich wortkarge Art des Fürsten an dessen Gedankenverlorenheit und Sorgen lag und nicht an irgendeinem Abscheu oder einer Verachtung gegenüber seiner Gesellschaft.
    Einen Augenblick später trat Jos hinter Fürst Bertaud und blickte ihm über die Schulter. Der Wall glänzte im Morgenlicht, aber auf den beiden Seiten wirkte das Licht sehr unterschiedlich. Auf der Wüstenseite ergoss sich das geschmolzene Sonnenlicht aus einem grausamen weißen Himmel, der seltsam metallisch wirkte. Das Licht auf dieser Seite der Barriere schien sich amWall dick wie Honig zu stauen und drückte gegen die mächtigen Granitblöcke, als besäße es Masse und Gewicht. Auf der anderen Seite blitzte und glitzerte Eis in einem matten dünnen Glanz, der aus dem hohen blauen Himmelsgewölbe herabsank: einem Glanz, der keinerlei Wärme enthielt.
    Auf beiden Seiten schien sich das Licht in den Rissen des Walls zu sammeln und zu stauen. Es rann wie eine Flüssigkeit aus den Rissen; Dampf quoll aus ihnen hervor, glühte in der sonnenhellen Luft und zerstreute sich langsam, während er weiter emporstieg.
    Die Greifenmagier tauchten unvermittelt hoch am weiß glühenden, strahlenden Wüstenhimmel auf. Sie stürzten sich wie angreifende Falken herab, wobei sie mit hohen, grausamen Stimmen schrien.
    Ashairiikiu Ruuanse Tekainiike, der jüngste und arroganteste unter den Feuermagiern, brannte in feurigen metallischen Farben: bronzefarben und golden mit flammenden Kupferzungen. Opailikiita Sehanaka Kiistaike, eine kleinere und anmutigere Greifin von goldgeflecktem Braun, trug Kes auf dem Rücken. Sogar auf diese Entferung war das Mädchen als weißer und goldener Streifen neben den dunkleren, sengenderen Farben der Greifen zu erkennen.
    Ohne zu zögern, stürzten sie sich flammend in die Tiefe, rasten viel zu schnell direkt zum brennenden Sand der roten Wüste hinab. Im letzten Augenblick jedoch, ehe sie im Sand aufschlugen, verschwommen sie zu Wind und Licht. Anschließend formten sie sich erneut und ruhten sich lachend neben dem aufragenden Wall aus. Zumindest stellte sich Jos vor, dass sie lachten – zumindest Kes lachte mit Sicherheit, und die Greifen loderten in ihrem eigenen wilden, lautlosen Humor, so ähnlich und doch unähnlich dem Humor der Menschen.
    Kes trat vor und legte die Hände auf den Wall. Feuer loderteunter den Händen hervor und leckte in reichen, flammenden Decken an der Mauer empor. Das Feuer fand den längsten und tiefsten Riss und strömte hinein, füllte ihn aus und wollte ihn vergrößern. Mächtige weiße Dampfwolken stiegen auf. Jos hörte – zumindest in Gedanken, wenn nicht tatsächlich – das Zischen, mit dem sich Feuer und Eis begegneten. Er stellte sich vor, wie sich der Stein unter dem Angriff der Flammen verformte und barst. Er stellte sich vor, er könnte sogar die machtvolle Magie der Schaffens- und Konstruktionsgabe, mit deren Hilfe man den Wall errichtet hatte, vor Anspannung ächzen hören, während sie bestrebt war, den Zusammenhalt des Walls zu bewahren, der auf einmal am liebsten zu einem chaotischen Sturm aus messerscharfen Splittern von Granit und Kristall zerborsten wäre.
    Fürst Bertaud, der neben Jos stand, stieß einen leisen Fluch aus. Er war erschrocken einen Schritt zurückgewichen, als er den tödlichen Sturzflug der Greifen gesehen hatte, und während er sich jetzt von dem Schrecken erholte, packte er das kalte Gestein der Fensterbank und starrte in die Tiefe. Seine Miene war seltsam. Jos hatte schon häufig Kreaturen des Feuers gesehen, aber der Anblick ihrer Wildheit und Schönheit erfüllte ihn jedes Mal erneut mit Ehrfurcht. Bertauds Schrecken überraschte ihn nicht. Was er nicht verstand, das war die Intensität der Betrübnis und der Sehnsucht, die hinter der mühsam gewahrten Ruhe des Mannes verborgen

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