DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
Trauer zu verstehen, nicht jedoch die Warnung. König Iaor warf dem Fürsten einen Seitenblick zu, und Jos fragte sich, was wohl der König in Bertauds Stimme gehört hatte. Kairaithin hatte keinerlei Blick für ihn übrig. Jos dachte, dass der Greif wahrscheinlich nicht in der Lage war, alle Untertöne der menschlichen Stimme zu deuten.
»Das werden wir tatsächlich nicht«, hatte König Iaor demFürsten beigepflichtet, und als der nächste Tag anbrach, führte er seinen sehr stillen und kleinlauten Erdmagier fort – der vom nahen Rand der Wüste oder von dem Großen Wall oder der gewaltigen, gebändigten Gefahr, die Kairaithin selbst verkörperte, sprachlos war, denn Jos hatte ihn tags zuvor und während der ganzen Nacht kein einziges Wort reden hören … Der König nun führte seinen Magier und das übrige Gefolge wieder den Bergpass hinab gen Tihannad, um alles an Vorbereitungen zu treffen, was möglich und praktisch schien.
Fürst Bertaud war als Einziger zurückgeblieben, um den Wall im Auge zu behalten. Er und sein Maultier, ein weiteres Muli sowie Jos, die Ziege und die verängstigten Hühner sorgten für ein ziemliches Gedränge in der Hütte. Die Rückseite der Hütte, ein angebauter Schuppen, hatte reichlich Platz für eine Ziege geboten, brachte aber nur mit Mühe und Not zusätzlich zwei Maultiere unter. Ihre Ohren strichen über die rauen Steine, wenn sie die Köpfe hoben, und sie zeigten sich geneigt, das Dachstroh zu fressen. Zum Glück verhielten sich die Ziege und die Maultiere selbst unter den beengten Bedingungen einvernehmlich. Vielleicht war auch nach Kairaithins Fortgang die Erinnerung an ihn so lebendig, dass allen drei Tieren die Anwesenheit jeder anderen Kreatur angenehm war.
Seit der Greif sich nicht mehr hier aufhielt, waren der weiße Hahn und alle Hühner, außer einem, zu ihrem Stall zurückgeschlichen, der direkt an der Hütte angebracht war und als einzige Stelle inmitten dieser Berge zuverlässig Wärme bot. Jos tat es allerdings um die fehlende Henne leid. Sie war zwar im Eierlegen nicht die zuverlässigste aus der Schar gewesen, aber er dachte nicht gern daran, wie sie in der Kälte herumirrte. Er verteilte eine zusätzliche Handvoll Körner an die übrigen Vögel, damit sie den Schrecken vergaßen, und achtete sorgsam darauf, dass die größeren Hühner die kleineren nicht vom Essen fernhielten. Solch kleine Sorgen hielten ihn beschäftigt, wenn er nicht in den Hauptbau der Hütte zurückkehren wollte.
Seit der König und sein Gefolge abgereist waren und sich das naheliegende Thema des Walles und seines möglichen Berstens erschöpft hatte, wusste Jos nicht mehr, was er zu Fürst Bertaud sagen sollte. Früher einmal hatte Jos über die Gabe verfügt, leicht reden zu können, jeden aus sich herauszulocken, mit dem er sprach, und jeden, dem er begegnete, in eine entspannte Haltung zu versetzen. Während der vergangenen sechs Jahre hatte er alle diese Fertigkeiten verloren. Heute wusste er nicht mehr, wie er sich mit irgendjemandem unterhalten sollte, abgesehen von den hallenden Bergen und einem Greifenmagier, den das eigene Volk verstoßen hatte.
Auch schien der Fürst aus Farabiand seinerseits nicht zu wissen, worüber er mit Jos reden sollte. Er verfügte über zu viel angeborenes Taktgefühl, schien es, um Fragen zu stellen wie: Also, wie ist es Euch ergangen? Wie ist es Euch hier in diesen Bergen ergangen, die weder dem Feuer noch der Erde angehören? Wie viel weniger waren dann Fragen zu erwarten wie zum Beispiel: Wie lange hat es gedauert, bis Kes Euch aufgegeben hat, um Tastairianes Gesellschaft zu bevorzugen? Und wenn Fürst Bertaud schon – glücklicherweise – zu feinfühlig war, um solche Fragen zu stellen, hatte Jos gewiss nicht vor, von sich aus Antworten darauf zu geben.
Vielleicht verachtete Fürst Bertaud aber auch Jos viel zu sehr, um mit ihm zu reden, abgesehen von Allgemeinplätzen, die in solch enger Unterbringung unausweichlich waren. Obwohl Jos gerne Fragen nach der Welt jenseits der Berge gestellt hätte, wollte er keine Zurückweisung riskieren, indem er sie aussprach. Er sagte deshalb gar nichts. Ebensowenig tat es Fürst Bertaud. So war es dann ein schweigsamer Tag, der sich dahinschleppte, nachdem König Iaor aufgebrochen war. Durchbrochen wurde die Stille nur vom Gackern der Hühner, dem Gesang von einoder zwei kühnen Finken, die sich tapfer von den unteren Bergwiesen heraufgewagt hatten, sowie dem gedämpften Summen der Bienen und dem
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