Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

Titel: DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Neumeier
Vom Netzwerk:
leistete der Aufforderung Folge, ganz wie ein Dienstbote oder Hund. Jos hatte nicht wirklich ein Auflodern von Zorn oder beleidigtem Stolz erwartet; er hatte nicht genug über diesen Befehl und seinen Tonfall nachgedacht, um irgendetwas zu erwarten. Zutiefst erschrocken war er jedoch über die müde Folgsamkeit, die er dem gesenkten Kopf des Greifenmagiers entnahm.
    Bertaud schien das ebenfalls zu erschrecken, denn er drehte sich rasch um und kehrte zu ihnen zurück – oder genauer gesagt, zu Kairaithin, denn er würdigte Jos keines Blickes. Der Fürst begann, eine Hand auszustrecken, als wollte er den Greifenmagier berühren, ihn am Arm oder der Schulter packen. Dann hielt er allerdings in der Bewegung inne und legte die Hand wieder andie Seite. Die Intensität seines Blicks schien Kairaithin jedoch eine Reaktion zu entlocken, denn dieser hob den Kopf und schaute Bertaud in die Augen.
    So standen sie auf dem kalten, windgepeitschten Gestein des Berges – sie beide, der Fürst aus Farabiand und der Greifenmagier, als wären sie in diesem einen Augenblick die zwei einzigen Lebewesen auf der Welt. Jos verstand nicht, was er da zwischen ihnen erblickte. Er dachte, dass es weder Freundschaft noch Feindschaft war, sondern vielleicht eine seltsame Art von Verstehen, die beiden dieser Gefühle geschuldet war.
    Bertaud bat leise: »Ich bitte dich um Verzeihung.«
    »Das ist nicht nötig«, entgegnete Kairaithin. Er neigte erneut das Haupt, und diesmal bemerkte Jos, dass es ihn eine gezielte Anstrengung kostete und doch nicht gänzlich widerwillig geschah. Kairaithin fuhr fort: »Alles, was ich tat, hat zu diesem Augenblick geführt. Alle wichtigen Entscheidungen blieben mir vorbehalten, und was ich tat, erwies sich ein ums andere Mal als falsch. Und alles, was geschehen ist oder jetzt geschehen wird, ist meiner mangelnden Voraussicht geschuldet.«
    »Nein!«, widersprach Bertaud sogleich mit Entschiedenheit. »Hättest du vor sechs Jahren Kes nicht in eine Kreatur des Feuers verwandelt, wäre alles eingetreten, was du für dein Volk gefürchtet hast. Dein geschwächtes Volk hätte sich niemals Farabiand und Casmantium zugleich stellen können, und dazu wäre es letzten Endes gekommen. Diese casmantischen Kaltmagier waren entschlossen, euch alle zu vernichten, und sie hätten es ausgeführt. Ich glaube, sie hätten es, und wenn damals nicht sofort, dann sehr wenig später …«
    »Ich hätte vorhersehen müssen, welche Waffe ich schuf, als ich Kes verwandelte …«
    »Das hast du! Natürlich hast du es! Warum hättest du Vorbehalte haben sollen, eine mächtige Waffe für dein Volk zuschmieden? Ich war es, den du nicht vorhergesehen hast, und wie hättest du es auch? Wie hätte es irgendjemand?«
    »Ihr ruft Greifen ?«, rief Jos, tief erschrocken über diese unvermittelte Erkenntnis. Farabiander waren diejenigen, die andere Lebewesen rufen konnten, ja, sehr schön – aber Greifen rufen?
    Als sich nun Bertaud und Kairaithin ihm zuwandten, begriff er, wie töricht es von ihm gewesen war, diese Erkenntnis laut den lauschenden Bergen zuzurufen. Sechs Jahre der Einsamkeit waren zu lange gewesen – niemals hätte er laut aufgeschrien, als er die Kunst der Spionage noch beherrscht hatte, egal wie erschrocken er gewesen wäre. Er wich einen Schritt weit zurück.
    Kairaithin begann, eine Hand zu heben; seine Lippen waren zusammengepresst, der Blick der schwarzen Augen undeutbar.
    Jos wich einen weiteren Schritt zurück, wohl wissend, dass es sinnlos war, da ihm keine Flucht offen stand und nichts zu sagen war. In einem Augenblick der Erkenntnis – zu spät – war ihm aufgegangen, was es für die Greifen bedeutet hätte, wäre ihnen bekannt gewesen, dass man sie rufen konnte wie Hunde. Und zugleich war ihm klar, dass dies niemand auf der Welt wusste, abgesehen von denen, die hier auf diesem Berg über dem Niambesee standen. Es erschien ihm undenkbar, dass irgendein Schwur der Geheimhaltung Kairaithin zufriedengestellt hätte. Jos holte tief Luft, reckte die Schultern und erwiderte den Blick des Greifenmagiers offen. Er fand dort keinerlei Erbarmen. Das hatte er auch nicht erwartet, wusste er doch, dass Erbarmen nicht zu den Begriffen gehörte, die Greifen verständlich waren. Er ertappte sich dabei, wie er an Kes dachte, die so schön und unmenschlich und genau so erbarmungslos wie ein Greif war. Er versuchte, lieber an sie zu denken, wie sie Jahre zuvor gewesen war, in ihrer Zeit als ausschließlich menschliches Wesen.

Weitere Kostenlose Bücher