DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
durchschnitt jede einzelne Maske, die Tan ihm in den Weg stellte, durchbrach schonungslos jede Vorspiegelung ruhiger Hinnahme sowie den Schock und den Zorn und das Grauen darunter. Er öffnete die innersten Schichten des Verstandes, die Tan teurer waren als jede Zuneigung oder Ehre oder sonst eine Eigenschaft, die höher zu schätzen er vielleicht behauptet hätte.
Tan hätte sich letztlich gegen dieses Eindringen gewehrt, nur war er dazu gar nicht fähig. Er konnte es einfach nicht. Erinnerungen verschoben sich in rascher Folge vor seinem geistigen Auge, und Bilder und Gefühle verschwammen konfus miteinander. Ihnen allen lagen Zorn und Furcht zugrunde, sodass sogar die Erinnerungen an seine Kindheit, an das Haus am Fluss und das Gesicht seiner Mutter eingefärbt wurden von dunklen Aufwallungen der Wut. Er schrie auf … hätte aufgeschrien, fand jedoch seine Stimme nicht. Der jeweils erste Anblick von Teramodian, von dem Hofstaat des Fuchses, von Istierinan wirbelten an ihm vorbei … Er hatte Istierinan bei jener ersten Begegnung gut leiden können, wie fast jeder diesen Mann bei der ersten Begegnung mochte, sogar diejenigen, die sich an dem liederlichen Eindruck störten, den er bei Hofe zeigte. Nicht viele bekamen sein anderes Gesicht jemals zu sehen …
Er sah Istierinans Arbeitszimmer vor sich – alle Fallen und Schlösser und Verschlüsselungen waren geknackt. Die wilde,unbekümmerte Freude jenes Morgens durchfuhr ihn erneut … Er hatte alle Schutzvorkehrungen des Linulariner Spionagemeisters überwunden, und alles stand ihm jetzt offen, einmal abgesehen von dem unbedeutenden Umstand, dass Tan ja auch wieder entkommen musste. Der Gedanke an Istierinans weißglühenden Zorn, falls er Tans Raubzug entdeckte, brachte ihn zum Lachen. Er drehte sich um und nahm ein kleines, dickes Buch vom Regal.
Er hatte nicht vorgehabt, es an sich zu nehmen. Es hatte nicht seine Neugier geweckt. Er wusste nicht, warum er danach gegriffen hatte. Er fand es in der eigenen Hand wieder, als hätte es eine merkwürdige Wendung des Geschicks dorthin befördert. Er schenkte ihm kaum Beachtung, selbst als er es aufklappte und auf eine zufällig aufgeschlagene Seite blickte …
Er stand irgendwo, wo es warm und eng war. Und es war ganz und gar nicht Istierinans Arbeitszimmer. Tans Kehle fühlte sich wund an; die Augen brannten, als hätte er die ganze Nacht hindurch im schwachen Licht unzulänglicher Kerzen gearbeitet und dabei einen komplizierten, streng bindenden Vertrag mit tausend Anhängen und Zusätzen niedergelegt. Das Bein schmerzte fürchterlich von der Hüfte bis zum Fuß. Er war furchtbar wütend.
Maianthe klammerte sich mit beiden Händen an seinen Arm. Tan hätte sie beinahe geschlagen … Er hätte sie vielleicht sogar geschlagen, falls der casmantische Magier nicht seinen Arm festgehalten hätte.
Tan wand sich im Griff des Magiers und versetzte stattdessen ihm einen Schlag: einen heftigen Hieb unter die Rippen. Es war ein Schlag von der Art, wie man ihn als Spion bei Raufereien im Dunkeln lernte, wo keiner der Beteiligten auch nur das leiseste Interesse an zivilisierten Regeln des Faustkampfes hegte.
So groß der casmantische Magier auch sein mochte, er warkein Raufbold. Er sank mit einem würgenden Laut auf ein Knie und drückte sich die Arme an Bauch und Seite. Tan starrte auf ihn hinab. Er fühlte sich seltsam: teils zufrieden, teils entsetzt und völlig im Ungewissen darüber, was sich gerade zugetragen hatte. Das Einzige, woran er sich völlig klar erinnerte, war, wie er den Magier geschlagen hatte. Einen mächtigen casmantischen Hofmagier, wie ihm allmählich einfiel. Vor den Augen seines Freundes, des noch mächtigeren Fürsten Beguchren. Und vor den Augen Maianthes. Die er womöglich beinahe ebenfalls geschlagen hätte.
Das Entsetzen siegte über die Zufriedenheit, als sich Tans Zorn langsam legte. Er blickte vorsichtig auf.
Maianthe stand mehrere Schritt weit von ihm entfernt, die Hände vor den Mund geschlagen, und starrte ihn an. Fürst Beguchren hatte ihr die Hand auf den Arm gelegt und sie vorher offenbar aus Tans Reichweite gezogen. Seine Miene war undurchschaubar.
Vor Tan rappelte sich der casmantische Magier mit schmerzhaften Lauten mühsam wieder auf. Tan reichte ihm vorsichtig die Hand und rechnete eigentlich schon mit einer scharfen Zurechtweisung. Er wusste, dass er auch um Entschuldigung hätte bitten sollen … Er suchte nach passenden demütigen Wendungen, aber seine übliche Gabe,
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