DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
zurückzuerlangen.«
Tan entgegnete leise – er brachte einen leisen, höflichen Ton zustande, wenn er sich darauf konzentrierte: »Wie ich vermute, hat Istierinan – oder, ja, ich weiß, womöglich irgendeine namenlose, gesichtslose Gruppe in Linularinum – gewusst, dass Euer Großer Wall Risse entwickelt hatte. Also setzte man darauf, König Iaor wäre gezwungen, seine Kräfte im Norden zusammenzuziehen und Linularinum im Süden relativ freie Hand zu lassen.«
»Und doch«, murmelte Fürst Beguchren, »wäre ich als gerissener Linulariner Spionagemeister davon ausgegangen, dass die vor sechs Jahren zwischen Farabiand und den Greifen entstandene Verständigung möglicherweise hielte. Der Wall war ja nicht errichtet worden, weil die Greifen einen Angriff auf Farabiand geplant gehabt hatten. Wie hätte irgendeine Gruppe in Linularinum, egal wie vorausschauend, vermuten können, dass ein Bruch des Walls Gefahren über Farabiand brächte statt über Casmantium?«
Tan wusste darauf keine Antwort.
»Ich denke«, fuhr Fürst Beguchren leise fort, »dass wir vielleicht an das Ende der Möglichkeiten gelangt sind, die uns unsere Ahnungslosigkeit lässt. Ich denke, es ist vielleicht an der Zeit, ein deutlicheres Verständnis dieses Buches und der Arbeit zu gewinnen, die es enthält. Ich denke außerdem, es wird letztlich doch nötig sein, wie Ihr es so treffend ausgedrückt habt, Euren Verstand und Euer Herz zu öffnen und herauszufinden, was dort geschrieben steht.«
»Falls du das zulässt, Tan?«, warf Maianthe unsicher ein.
Falls er es nicht täte, so zweifelte Tan nicht daran, dass Fürst Beguchren auf Zwang zurückgreifen würde. Das hätte Maianthe entsetzt. Und welchen Sinn hätte eine Weigerung auch gehabt, wenn der casmantische Herr doch so eindeutig recht hatte? Trotzdem konnte sich Tan nicht dazu aufraffen, sich zu diesem Vorschlag zu äußern.
Fürst Beguchren, der Tans Grauen zweifellos spürte, sagte sanft zu Maianthe: »Er weiß, dass keinem von uns ein anderer vernünftiger Weg offensteht. Er wusste es von Anfang an.«
Maianthe wirkte jetzt, wie Tan zu seinem Bedauern feststellte, allmählich wirklich entsetzt. Er streckte die Hand nach ihr aus und brachte mit einer sehr glaubhaften Imitation von Gelassenheit die Worte hervor: »Das stimmt. Es stimmt, Maia.«
Maianthe war keineswegs beschwichtigt, sprang auf und stellte sich hinter ihn. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und musterte den casmantischen Fürsten finster, wobei sie jung, klein, von der Reise zerzaust und, wie Tan dachte, auch sehr mutig und entschlossen aussah. Entfernt erheiterte ihn die Wertschätzung, die er der jungen Frau entgegenbrachte und die sich in den zurückliegenden Tagen immer stärker ausgeprägt hatte. Wie töricht es doch von ihm war, sich unter diesen Umständen überhaupt von Fürst Bertauds Cousine angezogen zu fühlen! Oder wahrscheinlich unter allen Umständen.
»Natürlich müsst Ihr bei ihm bleiben, Herrin Maianthe«, gestand ihr Fürst Beguchren zu, und er tat dies mit einer Würde, die kaum verriet, dass er ein Zugeständnis machte. Er warf Gerent Ensiken einen Blick zu, in dem sich Frage und Befehl mischten.
Der hochgewachsene Magier erhob seine lange Gestalt vom Stuhl und erweckte dabei einen leisen Eindruck von Zaghaftigkeit, als wüsste er, wie hoch er aufragte, hätte aber nicht den Wunsch, jemanden damit zu erschrecken. Dennoch versetzte er Tan in Unruhe, der die Armlehnen seines Stuhls packte.
»Nur, wenn du dir sicher bist«, erklärte Maianthe, der die Farbe ins Gesicht gestiegen war, während sie sowohl den Magier als auch den undurchschaubaren Fürst Beguchren hinter diesem anfunkelte.
Tan hätte sich gern geweigert, wäre das möglich gewesen. Er wusste jedoch sehr gut, dass der casmantische Fürst das nicht durchgehen ließe, und noch deutlicher wusste er, dass der aus jedem Widerstand resultierende Tumult niemandem dienlichgewesen wäre. Am wenigsten Maianthe. Er hob eine Hand, legte sie auf eine von Maianthes Händen und konzentrierte sich darauf, eine Miene milder Hinnahme an den Tag zu legen.
Der Magier tat den einen Schritt, der nötig war, streckte eine große Hand aus und legte Tan zwei Fingerspitzen an die Wange.
Tan hatte geglaubt, er wäre auf das Eindringen des Magiers vorbereitet gewesen, stellte nun jedoch fest, dass er noch nicht einmal in Ansätzen geahnt hatte, wie es sein würde. Niemand hätte sich darauf vorbereiten können. Gerent Ensikens Verstand
Weitere Kostenlose Bücher